Wissenswertes

Psychologie der Eigensicherung – Überleben ist kein Zufall

Buchneuauflage:
Das Buch „Psychologie der Eigensicherung: Überleben ist kein Zufall“ von Polizeipsychologe Dr. Uwe Füllgrage ist jetzt in der 6. Auflage erschienen. Dieses Standardwerk wurde u.a. erweitert durch die Themen: der Verteidigungskreis; das Gefahrenradar zur Vermeidung von psychologischen Fallen und Naturkatastrophen; die Bedeutung des Gefahrenradars in Zeiten des Terrorismus und für langfristige Entwicklungen ...

 


 

Am Kölner Hauptbahnhof kam es an Silvester 2015 zu massenhafter sexueller Belästigung von jungen Frauen und Diebstählen, nach Augenzeugenberichten vorwiegend durch junge nordafrikanische Migranten. Diese Ereignisse lösten in der Öffentlichkeit großes Entsetzen aus. Auf einer Pressekonferenz danach erwähnte die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker mehrere Verhaltensregeln für den Karneval, was erstaunlicherweise Unverständnis, Ablehnung und sogar Häme im Netz auslöste. Beispielsweise löste ihr Ratschlag, (fremde) Personen auf eine Armlänge Abstand zu halten, viele hämische Bemerkungen aus.
Im Internet kursierten z.B. Bilder eines Maßbandes, um den Abstand genau zu messen, eine vielarmige indische Göttin usw. Ein Blogger ironisierte ihn mit dem Vorschlag, man könne ja auch den Islamischen Staat mit einer ausgestreckten Hand aufhalten. Ein anderer schrieb, dass auch ein Verletzter, der am Boden liegt, einen Helfer auf Armlänge Abstand halten müsse.

All dies verrät
a) eine erschreckende Unkenntnis vom Wesen von Gefahren und von richtigen Verhalten in einer Gefahrensituation und
b) ein völlig naives Weltbild.

Deshalb ist das Buch von Füllgrabe „Psychologie der Eigensicherung: Überleben ist kein Zufall“ wichtig, von dem jetzt die 6. Auflage erschienen ist. Dieses Standardwerk wurde erweitert durch die Themen: der Verteidigungskreis; das Gefahrenradar zur Vermeidung von psychologischen Fallen und Naturkatastrophen; die Bedeutung des Gefahrenradars in Zeiten des Terrorismus und für langfristige Entwicklungen; der Unterschied zwischen Angst und Respekt vor Gefahren; gefährliche Straßenschläger; die wachsende Gewalt gegen deutsche Polizisten.

Gerade der Verteidigungskreis belegt, dass die Kritik an Frau Reker unberechtigt ist, denn jeder Mensch bevorzugt eine gewisse räumliche Distanz zwischen sich und anderen Personen. Die Größe dieser „persönlichen Distanz“, auch „persönlicher Raum“, „Verteidigungskreis“ und ähnlich genannt, ist abhängig von der Persönlichkeit, der Sympathie für die andere Person, deren Status und kulturellen Faktoren.

Man muss die Existenz der persönlichen Distanz und des Verteidigungskreises kennen, um bei einem Gegenüber keine unerwünschten Reaktionen auszulösen. Aber man muss auch selbst auf eine Reaktionsdistanz achten, um nicht Opfer eines Angriffs oder Taschendiebstahls zu werden. Thompson (1997, S. 116) spricht deshalb von einem psychologischen bzw. unsichtbaren Zaun. Dazu reicht bei einem potenziellen Angreifer oft schon aus, dem Gegenüber die offene Handfläche entgegenzustrecken und laut „Halt!!!“, „Stop!!!“ usw. zu rufen. Dies ist die erste Verteidigungslinie. Sie signalisiert dem Gegenüber: Bis hierher und nicht weiter! Der psychologische Zaun verrät dem Gegenüber die eigene Stärke. Man beachte: Täter greifen vorwiegend nur Personen an, die sie als schwach einschätzen – unaufmerksame, hilflose, betrunkene und ähnliche Personen.

Da auch Taschendiebe den Körperkontakt mit ihren Opfern suchen, ist gegenüber unbekannten Personen immer eine situationsangepasste Reaktionsdistanz wichtig.

Füllgrabe erweitert in dieser Auflage den Begriff des Gefahrenradars auch auf Naturkatastrophen (z.B. Tsunamis), Terror und Beziehungsfallen, denn auch in nichtaggressiven Interaktionen kann man leicht zum Opfer werden, z.B. durch einen Heiratsschwindler oder durch einen Online-Liebesbetrug.

An einem Beispiel wird aufgezeigt, wie überlebenswichtig eine bestimmte innere Haltung ist, die Shakespeares Hamlet so formulierte: „Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles.“ Rick Rescorla sah nämlich voraus, dass irgendwann einmal ein großer Terroranschlag in New York geschehen würde. Durch die mentale und materielle Vorbereitung darauf und intensives Training gelang es ihm, am 11.09.2001 die allermeisten Personen seiner Firma aus dem World Trade Center zu retten.

Die Neuauflage beleuchtet auch Kernspechts „Berserkerprinzip“ näher. Durch Interviews mit „Straßenschlägern“ wurden deren Motivation und Verhaltensweisen ermittelt: „Egal, aus welchem Land sie kamen oder welchen Hintergrund die Befragten hatten, für sie alle war der wichtigste Aspekt, Respekt zu bekommen und geachtet zu werden.“ Als mögliche Vorsichtsmaßnahmen gegen ihre Gewalt werden genannt: Höflichkeit, Entschuldigung, wenn man einen Fehler gemacht hat, Vermeidung eines zu langen Augenkontakts.

Für Gefahrensituationen gilt das Prinzip: Erwarte das Unerwartete! Sei vorbereitet!

Und dazu trägt dieses Buch bei.
 

Uwe Füllgrabe: Psychologie der Eigensicherung. Überleben ist kein Zufall
Richard Boorberg Verlag, Stuttgart
6. Auflage 2016
ISBN: 978-3415057067

 

Text: Dr. Uwe Füllgrabe