Editorial

Was bringen uns Zhong Xin Dao und Grappling?

Für Pfingsten 2018 hatte sich GM Kernspecht mit seinem Team etwas Neues ausgedacht: Er lud die WT-Leute in die Wiesenbacher Biddersbachhalle zu einem dreitägigen Intensiv-Lehrgang, auf dem vormittags Grappling und nachmittags Zhong Xin Dao (ZXD) geübt wurde.

Mit mir kamen über 200 WT-ler nach Wiesenbach in die vertraute Halle, um dort zwei fremde Kampfdisziplinen kennenzulernen oder zu vertiefen. Welche Absicht verfolgten GM Kernspecht und sein Team damit?

In der EWTO dreht sich alles um WingTsun. Das ist schon seit den 1970er Jahren so. Wie können ZXD und Grappling unser WT befruchten? Welche Impulse können ZXD bzw. Grappling unserem WT geben?

Ein großer französischer Philosoph hat einmal gesagt, dass er die griechische Philosophie, die ja ganz Europa prägte, erst verstand, als er sie mit der völlig anderen Philosophie Chinas kontrastierte. Und der vielleicht berühmteste japanische Karatemeister der Neuzeit schrieb dem TaiChi eine ähnliche Wirkung auf sein Shotokan-Karate zu. GM Kernspecht benutzte zur Gegenüberstellung oder als Vergleich zum WT in den 1970er und 80er Jahren das philippinische Escrima, seit Beginn des neuen Jahrtausends die inneren Stile und in den letzten Jahren vor allem das chinesische Zhong Xin Dao. Sein Großmeisterteam, bestehend aus Giuseppe Schembri, Oliver König und Thomas Schrön, nahm an diesem Weg teil, und die letzten beiden erkundeten zusätzlich die Kunst des Grappling. Immer ging es darum, die Prinzipien und die Funktionen dieser Referenzstile zu erkennen und die Übungen, mit denen sie ihre spezifischen Fähigkeiten entwickeln, auf ihre Verwendbarkeit im WT zu überprüfen. Ziel war es nicht, deren Techniken zu kopieren.
 

Was kann ein WingTsunler vom Zhong Xin Dao lernen?

ZXD hat wie WT Formen, Anwendungen dieser Formen, „Klebende Hände“ und das, was wir im WT LatSao nennen und die ZXD-Leute Sanda, also Freikampf. Aber wie sie das machen, ist nicht das Gleiche. Aber gerade die Unterschiede und warum diese Unterschiede gemacht werden, können für einen WT-Experten sehr aufschlussreich sein, um sein eigenes WT besser zu verstehen.

Für SiFu war das ZXD deshalb besonders erforschenswert, weil es ihm alle Ingredienzien lieferte, um seinen und Prof. Tiwalds Wunsch, die Transformation des WT zu einem inneren Stil zu realisieren. Schon bevor er Prof. Tiwald traf, hatte SiFu die Aufmerksamkeit & Bewusstsein als erste zu erreichende Fähigkeit nach vorn gestellt. So wie es WT als Zen-buddhistische Kampfkunst aus dem Shaolin-Kloster ja eigentlich zwingend erfordert. Aber wie man das in der Praxis, d.h. im Unterricht, anstellt, da lieferte uns der Schöpfer des ZXD, GM Sam Chin, mit seiner über zehnjährigen Erfahrung in einem buddhistischen Kloster wertvolle Hinweise aus der Praxis. SiFu war immer auf der Suche nach geeigneten Übungen, um die sieben essenziellen Fähigkeiten des WT direkt und nicht erst über den (Um-)Weg der Formen, hervorzubringen. Die gleiche Idee hatte allerdings GM Sam Chin 15 Jahre zuvor schon erfolgreich mit seinen Solo-Übungen in die Praxis umgesetzt.
Ähnlich sieht es mit der von SiFu entwickelten „Gestängetheorie“ aus. Auch hier halfen ihm GM Sams Entwicklungen voran.
Und zuletzt können WT-ler von den Struktur- und Energie-Übungen des ZXD profitieren. Man kann insofern sagen, dass das ZXD dem WT als Hilfswissenschaft wertvolle Hilfe bieten kann.
 

Nun zum Grappling von GM Gokor Chivichyan:

Was hat Grappling mit WT zu tun und wie kann Grappling das WT befruchten?

Grundsätzlich hat Grappling mit dem traditionellen WT überhaupt nichts zu tun, so wie es im WT eigentlich keinen Bodenkampf gibt. Ein WT-Mann soll es vermeiden, vom Gegner gepackt und zu Fall gebracht zu werden.
Tatsächlich ist es auch nicht so einfach, einen erfahrenen WT-Experten niederzuringen, denn dieser hat viele geeignete Möglichkeiten in seinem Repertoire, um den Ringer im Ansatz daran zu hindern. Ich denke hierbei an Handkanten-, Ellbogen- und Knietechniken. Aber nicht jeder unserer 60.000 WT-Mitglieder ist schon ein Experte.

Wir haben außerdem einen großen Anteil an leichtgewichtigen Männern, Frauen und Kindern.
Es ist bezeichnend, dass speziell diese letztgenannte Gruppe in Hongkong Fallübungen und einfache Bodenkampftechniken erlernt. Es ist nicht sinnvoll, bei einem echten Kampf zu Boden zu gehen oder sich freiwillig auf den Boden zu begeben, um die Beine des Gegners zu attackieren. Genau das wird durch eine einseitige Werbebotschaft des brasilianischen Jiu-Jitsu aber so propagiert, dass immer mehr Straßenschläger diese Angriffstechnik für sich übernehmen, so dass man heutzutage damit rechnen muss, auf diese Weise angegriffen zu werden. Man hat inzwischen den Eindruck, dass der Angriff zu den Beinen, um den Gegner zu Fall zu bringen, schon Bestandteil des modernen Ritualkampfes geworden ist.

Deshalb betont SiFu immer wieder: „Bodenkampf und Ringerangriff zu den Beinen sind zwar keine Bestandteile des traditionellen WingTsun, aber sie gehören nun zu den auf der Straße üblichen Angriffen.
Wenn wir also im WT als unsere wichtigste und vornehmste Aufgabe die Selbstverteidigung ansehen, dann dürfen wir den „Anti-Bodenkampf“ und das Abwehren und Verhindern des „Ringer-Angriffes zu den Beinen“ ebenso wenig vernachlässigen wie die Tatsache, dass man heutzutage damit rechnen muss, nicht nur von einem, sondern von mehreren Gegnern angegriffen zu werden, dass die Gegner uns, wenn wir zu Boden gehen, in den Kopf treten und dabei unseren Tod in Kauf nehmen und dass sie auch Schlag- und Stichwaffen hemmungslos einsetzen.

Man kann aber nur abwehren, was man kennt. Deshalb macht es Sinn, über den Bodenkampf zum „Anti-Bodenkampf“ zu kommen.

Ein Grund, schon in den 1970er Jahren Escrima in die EWTO aufzunehmen, war, wie mir SiFu erzählte, die Erkenntnis, dass nur jemand, der selbst mit Waffen (Stock bzw. Messer) umgehen kann, auch in der Lage ist, solche Angriffe abzuwehren.

Ebenfalls ließ SiFu schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre Thaiboxen durch einen thailändischen Meister unterrichten, u.a. damit seine Schüler die tiefen Tritte der Thais kennenlernten und eine Chance hätten, mit ihnen zurecht zu kommen.

Wie SiFu schon auf dem Leadership-Kongress vor dem dreitägigen Seminar betonte, müssen wir uns jeder Veränderung des Gegners und dem Angriffs-Szenario auf der Straße sofort anpassen, um in jeder Hinsicht die Oberhand zu behalten.

Zurück zum Grappling und Bodenkampf:

Jeder Boxkampf würde schon nach kurzer Zeit in eine Art Ringen ausarten, wenn es nicht einen Ringrichter gäbe, der die Kontrahenten trennte. Somit besteht ein echter Kampf grundsätzlich aus Treten, Schlagen, Ringen und womöglich Bodenkampf, wenn er durch die verschiedenen Distanzen geht und entsprechend lang dauert.

Ich wiederhole deshalb die Aussage von SiFu, dass zum traditionellen WT Ring- und Bodenkampf nicht gehören, aber dass sie Bestandteil der Selbstverteidigung sind.

Insofern ist es richtig, zu sagen, dass Escrima, ZXD und Grappling Hilfswissenschaften sind, die dazu beitragen, dass wir unser WT besser verstehen und in der Selbstverteidigung gezielter anwenden können.

Dass Newman-Escrima aber nicht nur eine Hilfsdisziplin für WT ist, sondern sich mit den Jahren durch GM Bill Newman zu einer vollwertigen Kampfkunstdisziplin innerhalb der EWTO mit vielen begeisterten Anhängern entwickelt hat, sehen wir mit großer Freude. Ähnlich werden sich auch das Grappling von GM Gokor Chivichyan. und das ZXD von GM Sam Chin entwickeln. Beide haben in Rekordzeit viele begeisterte Fans in der EWTO für sich gewinnen können. Ein Beweis dafür war dieses dreitägige Seminar mit über 200 Teilnehmern.

Obwohl ich kein(e) begeisterte(r) Frühaufsteher(in) bin und mein ZXD-Bruder Hsin Chin erst recht nicht, ließen wir es uns nicht nehmen, jeden Morgen zu grapplen bzw. grappeln, sowohl gegeneinander als auch mit dem mehrfachen Weltmeister Gokor Chivichyan. Hsin erwies sich als ein großes Grappling-Talent und es würde mich nicht wundern, wenn er da künftig oft mitmischt, um seine Kampffähigkeiten am Boden abzurunden.

Beeindruckend war GM Sam Chins lebendiger Unterricht mit vielen anschaulichen Demonstrationen und auf den Punkt gebrachten präzisen Erklärungen.

Berührt hat mich ganz besonders, als er hervorhob: „Die achtsame ZXD-Herangehensweise wird Dir helfen, ein guter Mensch zu werden – und vor allem ein glücklicher.

Ein paar Tage nach dem ZXD- & Grappling-Seminar sagte mir ein Teilnehmer:

Noch nie zuvor hatte ich eine solche Einheit unter den Teilnehmern erlebt. Ich empfand mich als Teil einer großen Sache. Als Anfänger im ZXD und auch Grappling lernte ich zusammen mit WT-Meistern und -Großmeistern. Wir lernten dasselbe, trugen gleiche T-Shirts oder Rashguards. Keine Graduierungsabzeichen, keine Hierarchie trennte uns. Jeder teilte mit dem anderen, was er verstanden hatte. Wir waren alle gleich. Wir waren alle Zeugen und Mitwirkende eines historischen Geschehens. So muss es Mitte 1970 in den Anfängen des WingTsun in Deutschland gewesen sein.
 

Natalie