Editorial

Was hat Wasser mit WingTsun zu tun?

Als ich erfuhr, dass ich das Editorial schreiben darf, weilte ich im Hotel Giessbach am Brienzersee im Berner Oberland. An diesem Ort mache ich (nach all den für das WingTsun bedingten Reisen) jedes Jahr ein paar Tage Pause: zum einen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen (Work-Life-Balance), zum anderen aber auch, um neue Ideen entstehen zu lassen.

An diesem wunderbaren Ort rauschen die Giessbachfälle tosend Richtung See und sind je nach Wetterlage immer wieder anders anzusehen. In dieser Umgebung der Wasserfälle mache ich jeden Morgen die WingTsun Formen. Dabei nehme ich sehr viel Energie auf. Mein Körper macht mit dem Wasser mit, während ich das Wasser beobachte.

Der schäumende, tosende und donnernde Wasserfall

 

Immer wieder schaue ich dem Wasser zu, wie es die Kaskaden herunterdonnert. Beim Zuschauen dieses Naturschauspiels sind mir schon viele Ideen für den Unterricht gekommen. Zum Beispiel sehe ich mich ChiSao mit dem Partner machen. Wir bewegen uns. Der ChiSao-Partner wird hart oder blockt und ich gleite einfach über seine Arme wie Wasser. Ich kümmere mich nicht darum, wie meine Bewegung ausschaut. Sie geschieht einfach …



Der Wasserfall ist Yang

Der Wasserfall nähert sich mit enormer Geschwindigkeit dem See,
der ruhig wartet.
 

Jeder Tropfen möchte so schnell wie möglich zum See gelangen. Er springt von Stufe zu Stufe. Man erkennt beim genauen Hinsehen den einzelnen Tropfen und doch zeigt sich das Wasser als Einheit, die zu sehen und durch das Vibrieren des Bodens zu spüren ist. Das Wasser passt sich überall an oder sucht sich seinen Weg – egal, ob da Steine oder Felsen sind. Es fliegt förmlich darüber, springt und hüpft oder fließt am Hindernis vorbei. Es scheint so, dass dies ohne Mühe und Anstrengung geschieht. Doch dem enormen Druck könnte niemand standhalten. Das Wasser würde einen einfach mitreißen.
Kaum ist das Wasser – eben noch schäumend, tosend und donnernd – den Berg hinuntergestürzt, erreicht es schließlich mit enormer Geschwindigkeit und Kraft den See.


Der See ist Yin

Der See hat die Unruhe still in sich aufgenommen.
 

Der See nimmt diese Unruhe still in sich auf. Die Wogen beruhigen sich, egal wie stark und heftig sie waren.
Der See ist Yin: Er nimmt auf, tut nichts, ist einfach da. Er ist die Ruhe in sich selbst und ist friedlich. Das Wasser des Falles beruhigt sich und wird eins mit dem See.

Für mich stellt dies nichts anderes als unser WingTsun oder das Innere WingTsun dar. Wenn jemand mich angreift, werde ich eins mit dem Gegner und er wird ein Teil von mir, bis er sich beruhigt.

Ich habe vom Wasser gelernt, dass ich mich so bewegen kann, wie ich es für den Moment gerade brauche. Ich kann aktiv sein oder (scheinbar) passiv, um alles in mich aufzunehmen. Ohne Mühe und doch energievoll. Ich passe mich allem an, egal wie das Hindernis aussieht, sich anfühlt, mich behindert. Da Wasser macht es sich einfach, sich seinen Weg zu suchen. Das heißt für mich, dass ich es ebenfalls so einfach wie möglich mache, damit ich so effizient wie Wasser sein kann.
Das Wasser sieht so aus, als ob es sich anpasst. Ich glaube aber, dass es sich nimmt, was es will.
Es ist für mich immer spannend, der Natur zu schauen und sie zu beobachten. Ich lerne jeweils viel dabei oder ziehe Parallelen zum WingTsun.

Probiere es einfach einmal selbst aus und beobachte genau, wenn du das nächste Mal in der Natur bist. Vielleicht siehst auch du Parallelen zu unserem WingTsun?
Gleichzeitig beruhigt sich während des Beobachtens dein Geist und die Seele. Der Stress geht weg, weil du in dem Moment im Jetzt bist, achtsam bist. So ist es auf jeden Fall bei mir.

Was ich mit dem Beitrag sagen möchte: Achtet auf euch! Gönnt euch eine Auszeit, um Neues entstehen zu lassen.

Be water, my friend!” – Bruce Lee


Viele Grüße vom Giessbach
Euer Giuseppe Schembri