Editorial

Wie sinnvoll ist es, Abwehren gegen Klingenwaffen in der Selbstverteidigung zu unterrichten?

Mit diesem Thema hat sich DaiSifu Dr. Oliver König ausgiebig beschäftigt, so dass ich ihn gebeten habe, seine Gedanken in einem Gasteditorial zu vorzustellen.

Euer SiFu/SiGung Keith R. Kernspecht

Vor einigen Jahren hat mein SiFu, GM Prof. Keith R. Kernspecht, unsere gesamten Unterrichtspläne auf den Kopf gestellt. – Die Ursache waren seine Forschungsarbeiten, konkret seine Dissertation. Er nutzte die Methode der Rückwärtsplanung, um zu analysieren, inwieweit unser Stil abgestimmt auf die tatsächliche Bedrohungssituation ist.

Ergebnis dieser Untersuchung war, dass das herkömmliche WingTsun, so wie die meisten anderen traditionellen Stile, nicht wirklich auf die tatsächliche Bedrohung auf der Straße berücksichtigt, sondern im Training meist konstruierte Situationen schafft, bei denen es entweder um die Abwehr von eigenen stiltypischen Angriffen oder aber um die Abwehr von Angriffen fremder Stile, die aber kampfsport-mäßig vorgetragen werden.

Ein Verhaltenstraining, das Rücksicht auf die eigentliche Vorkampfphase nimmt, fehlte ganz im System, obwohl dies die wohl wichtigste Phase im Kampf ist. (Mehr zu diesem Thema in folgenden Büchern: Prof. Keith R. Kernspecht: „KampflogikPraxisband1, „Kursbuch: Inneres WingTsun2)
Auch eine Abstufung der Gefährlichkeit von Situationen und eine darauf jeweils verhältnismäßige Antwort wurde nie gemacht.

Ausgehend von der realen Bedrohungssituation gibt es
zwei Worst-case-Szenarien

1. Am Boden von einem oder mehreren Gegnern getreten zu werden

Eine solche Situation kann zu allerschwersten Verletzungen bis hin zum Tode führen. Dies wird in unseren modernen WT-Programmen schon ab dem 1. Schülergrad geübt und in weiteren Programmen fortgeführt.

2. Die Bedrohung mit Klingenwaffen

Hier in diesem Editorial will ich mich dem zweiten Thema zuwenden. Ich habe an dieser Stelle schon einmal über das Verbessern der „Großen sieben Fähigkeiten“ im WingTsun „mit Hilfe von“ Übungsmessern geschrieben.
Wenn das Thema „Messerabwehr“ zur Sprache kommt, dann erheben sich in Wellen die Internetforen, Twitter, Facebook etc. und zahlreiche „Experten“ tauchen plötzlich auf, um mit ihren Beiträgen und Videos mich, meine Mitstreiter und am besten die gesamte EWTO zu geißeln, teeren und federn …

Dabei wird immer wieder behauptet, dass ein Unbewaffneter gegen einen geübten Messerangreifer keine Chance habe …
Schon als WingTsun-Anfänger wurde mir vor über 30 Jahren eingebläut, dass wir „nur geringe Chancen“ gegen einen Messerstecher haben. Aber diese nützen müssen!
Aber nicht nur ein geübter Messerangreifer, sondern jeder, der hysterisch mit einem Messer herumhantiert, kann enorme Verletzungen verursachen!

Trotzdem kann man dieses Thema nicht einfach ausblenden – nach dem Motto, wenn wir es nicht trainieren, dann können wir auch nicht kritisiert werden.
Wir haben deshalb das Thema: Bedrohung mit Klingenwaffen“ grundsätzlich in unseren Schüler-Unterrichtsprogrammen fixiert. Das Thema ist ganz bewusst so gewählt und heißt nicht etwa „Messerabwehr“, denn das Spektrum der Risiko-Minimierung in solchen Fällen ist viel größer, als auf den ersten Blick angenommen.

Die einzelnen Unterrichtsbereiche

•  Aufzeigen der Gefährlichkeit von Klingenwaffen-Angriffen

Hier wird der Schüler für das Thema sensibilisiert und lernt von Anfang an, dass er nicht leichtsinnig versucht, in einer Auseinandersetzung gegen jemanden mit z.B. einem Messer vorzugehen. Verschiedene Angriffsmethoden werden geübt, denn wer angreifen kann, kann den Angriff auch besser einschätzen. Außerdem werden untaugliche Methoden der Abwehr von Messern ausprobiert, um dem Schüler klarzumachen, was geht und was auf keinen Fall funktioniert.

•  Achtsamkeit im Vorfeld

Prof. Horst Tiwald beschreibt sehr anschaulich in seinem Werk „Psycho-Training im WingTsun, Taiji und Budo-Sport“3 den Unterschied zwischen Kontakt und Berührung. Kontakt entsteht schon beim Wahrnehmen des Gegners. Der Gegner kann noch einige Meter weiter weg stehen, wobei die Zeit zwischen Kontakt und der eigentlichen Berührung durchaus strategisch genutzt werden kann. So lässt sich z.B. die Distanz vergrößern, die Flucht ergreifen oder man nutzt die Zeit, eine Behelfswaffe zu ergreifen (siehe Punkt 3).
Die Achtsamkeit im Vorfeld kann Leben retten! Viele Messerattacken werden gar nicht erkannt bzw. erst wenn die Attacke schon erfolgt ist.

Fixer Teil des Unterrichts ist deshalb z.B. ein Achtsamkeitstraining, bei dem jeder Partner jederzeit während des Trainings (z.B. beim ChiSao) ein Übungsmesser ziehen kann. Der andere Partner muss schon auf die Greifbewegung reagieren und wenn diese versäumt wird, schnell zurückweichen und Bereitschaft zeigen.

•  Das Nutzen von Behelfswaffen

Um eine Gleichheit in einer Bedrohungssituation herzustellen, ist es eine Möglichkeit, sich auch zu bewaffnen, z.B. mit einer Behelfswaffe. Dies kann ein Aschenbecher, ein Bierkrug, ein Besenstiel, ein Stuhl oder ein anderer Alltagsgegenstand sein.
Das Üben mit Behelfswaffen ist auch ein fixer Bestandteil der Unterrichtsproramme. Da die BlitzDefence-Programme sowieso von Waffenangriffen abgeleitet sind, kann sich der Schüler schnell auf den Gebrauch der Behelfswaffen einstellen.

•  Gewandtheit zum Ausweichen

Sich bewegen lernen, um Waffenangriffen ganz gezielt auszuweichen, zurückzuweichen, das Ziel zu entziehen. Ich spreche hier bewusst von generellem Bewegen und nicht von spezifischen Bewegungen oder Techniken!
Übungen für die Verbesserung dieser Fähigkeiten werden in unseren modernen EWTO-Programmen schon sehr früh durchgeführt. Sehr wichtig ist hier auch, dass der Schüler schon seine optische Reaktionsfähigkeit geübt hat.

•  Die eigentliche Abwehr

Kommen wir nun zur eigentlichen Waffenabwehr: Wenn Punkt 4 nicht gemeistert wird, ist Waffenabwehr per se komplett hinfällig.
Wird Punkt 4 jedoch beherrscht, geht es nun darum, den Gegner durch gezielte, schwere Treffer (z.B. Augen, Genitalien, Knie …) zu stoppen, Fallen zu stellen (Langstock-Konzept), zu versuchen, die Waffe wegzunehmen etc.
Dass dies ein enormes Risiko birgt, selbst verletzt zu werden, ist offensichtlich. – Aber wer ständig übt, minimiert dieses Risiko.
Es ist in etwa so, wie wenn jemand einen Survivalkursus macht, um z.B. in der Wüste überleben zu können. Mit diesen Fähigkeiten hat er dann auch keine Garantie, dass er in der Wüste überlebt, aber die Chance ist weitaus höher als für jemanden, der diese Fähigkeiten nicht erlernt hat!

Dr. Oliver König

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1  Prof. Keith R. Kernspecht: „Kampflogik – Praxisband
2  Prof. Keith R. Kernspecht: „Kursbuch: Inneres WingTsun
3  Prof. Horst Tiwald: „Psycho-Training im WingTsun, Taiji und Bodo-Sport