Editorial

WingTsun – gestern und morgen • Interview statt Editorial vierter Teil

Du unterscheidest oft zwischen dem WingTsun oder Wing Chun, das man kennt und dem, das man nicht kennt, das für Dich als Visionär und Entwickler schon eine Realität ist, mit der Du experimentierst, aber für den Großteil Deiner Schüler, die nicht direkt täglich an Dir dran sind, noch fern und ein Versprechen auf die Zukunft ist.

    Markus Senft interviewte GM Kernspecht für die WTW online
 

Das ist richtig. Ich beschäftige mich mit dem perfekten WingTsun, wie es sein könnte. Einem WingTsun, das Yin & Yang hat und nichts ausschließt. Ich weiß, dass das viele verwirrt und manche überfordert.

Könntest Du uns eine Übersicht geben, wie Du diese beiden WingTsun für Dich unterscheidest? Vielleicht zuerst das übliche WingTsun – WingTsun, das man kennt?

Das übliche WingTsun (Wing Chun, Ving Tsun) ist ein äußeres, in der Version meines eigenen SiFus ein halb äußeres, halb inneres. Obwohl er es nicht so nennen würde.
Man lernt die traditionellen Solo-Formen, um die in ihnen enthaltenen Bewegungen (Techniken) zu lernen und durch ständiges rhythmisches Wiederholen einzuschleifen und zur zweiten Natur werden zu lassen.
Man lernt die Anwendungen jeder einzelnen Bewegung und „drillt“ sich diese Bewegungen, die dann zu festen Techniken werden, ein. Auf eine bestimmte Bewegung des Gegners „produziert“ man die dazugehörige Gegen-Bewegung.
Der Angriff hat Vorrang vor der Verteidigung. Die wirksamste Angriffstechnik ist der sog. „Kettenfauststoß“ mit Verfolgungsschritten, bei dem ein Fauststoß auf den anderen folgt. Man macht den zweiten, weil man den ersten gemacht hat und den dritten, weil man den zweiten gemacht hat usw.
Das Ganze geschieht aggressiv und ziemlich blindwütig, ohne dass man auf das jeweilige Argument (Frage) des Gegners hört.
Was die Abwehren betrifft, so werden sie nur nötig, wenn der eigene Fauststoß nicht die erwartete Wirkung zeigte. Gelingt es dem Gegner, den Angriff des „äußeren“ WingTsun-Kämpfers abzuwehren, gibt dieser partiell im Arm-/Schulterbereich etwas nach.
Dann rastet er in der Winkelstellung (BongSao, TanSao) dieser Endposition ein, der Oberkörper ist angespannt, besonders die Schulterblätter, so dass er die auf ihn einwirkende Kraft via Bauchmuskeln über Knie und Füße auf den Boden leiten kann. Dadurch kann er sich vom Druck des Gegners in eine Wendung wegdrücken lassen (45 Grad).

Dieses ist das WingTsun, das man kennt:
Es ist armlastig, hauptsächlich linear, orientiert sich am „Keil“ und arbeitet mit dem, was die amerikanische Wissenschaft als „Automatismen“ lobt.

Und das WT, das man nicht kennt, das WT als Möglichkeit?

Ich nenne es hier einmal das „innere“ WT. Aber ich glaube nicht an die Dichotomie.
Man lernt auch die traditionellen Soloformen, aber nicht um die darin enthaltenen Bewegungen als Techniken einzuschleifen, die man im Kampf unbedingt „zur Anwendung bringen“ will.
Im inneren WT will man nicht die Übungen (Form-Techniken) lernen, sondern „mit Hilfe“ der Übungen (Form-Techniken) lernen.
Die Soloformen helfen uns „als Übungen“, uns zu ver-ein-en zum „Keil“ und zum „Ball“.
Grundsätzlich geht es im „inneren“ WingTsun darum, nicht bestimmte Bewegungen willkürlich zu realisieren, sondern im Bewegen mit der Achtsamkeit hinaus in das Umfeld zu gehen, um dort aktuelle „Argumente“ aufzunehmen.
Es geht dabei vorerst darum, sich dieses Umfeld vorzustellen (Yi), also mittels einer Vorstellung (Yi) achtsam in das Umfeld hinauszugehen.
Später im realen Kampf hat man dann gelernt, seine Achtsamkeit zum Gegner hin zu weiten, um von dort die aktuellen „Argumente“ aufzunehmen.
Es geht also nicht darum, fertige Bewegungen oder fertige Gewohnheiten zu realisieren, wie sie das rhythmische Bewegen prägen.
Über das Aufnehmen der aktuellen „Argumente“ aus dem Umfeld erfolgt ein ganz spezielles Bewegen, das besonders durch die Arbeit der Faszien im ganzen „Gestänge“ geprägt ist. Hier geht es um „Jin-Kraft“.

Dieses ist das WT, das man nicht kennt:
Es ist rumpf-geleitet, ganz-körperlich, linear und rund, orientiert sich am „Keil“ und am „Ball“. Es wahrt seine jeweilige Struktur und gibt sie aber auch überraschend für die andere auf. Es ist spannungsgeladen, ohne verspannt oder schlaff zu sein, gibt aber auch bereitwillig wie ein elastischer Weidenzweig nach, der sich der Schneelast entledigt. Es folgt dem Chan-Buddhismus und baut nicht auf Automatismen, konditionierte Reflexe und Gewohnheiten auf!

Vielen Dank für das ausführliche Interview.