Editorial

WingTsun-Unterricht weckt Emotionen

Liebe WingTsun-Lehrerinnen und -Lehrer, liebe Schülerinnen und Schüler,
diesen Monat habe ich mir Gedanken gemacht zum Thema Emotionen und WingTsun-Unterricht – im Speziellen aus der Sicht des Lehrers.

Als WingTsun-Lehrer möchten wir der Schülerin/dem Schüler das eigene Lernen ermöglichen und sie/ihn darin unterstützen. Es geht weder darum, Schüler/innen zu belehren, noch eigene überlegene Fähigkeiten zu demonstrieren. Trotzdem kennt wohl fast jeder, der unterrichtet – Lehrer wohl häufiger als Lehrerinnen, die folgende Situation:

Der Unterricht läuft super. Alle haben Spaß. Die Schüler/innen strengen sich an, das gewünschte Übungsziel zu erreichen. Der Lehrer ist voller Elan beim Unterrichten, zeigt mit verschiedenen der anwesenden Schüler Übungen. Mitten in dieser dynamischen Stimmung passiert es: Der Lehrer demonstriert mit einem Schüler einen Angriff. Dieser soll – wie gezeigt – abwehren. Der Schüler ist nervös und möchte seine Aufgabe möglichst gut lösen. Er stellt sich vor, er würde wirklich angegriffen und „wehrt“ sich plötzlich so heftig, als wäre es tatsächlich der Ernstfall. Der überraschte Lehrer fühlt sofort den eigenen Adrenalinschub, die aufsteigende Wut über die unangemessen starke Reaktion, fragt sich: „Will der mich herausfordern?“, und kontert instinktiv ebenfalls heftiger. Er realisiert die eigentliche Unsicherheit des Schülers zu spät und hat seine eigenen Emotionen kurzzeitig nicht im Griff. Der Schüler ist getroffen, hat vielleicht Schmerzen und der Schreck tut sein Übriges. Der Schüler versteht die Welt nicht mehr. Hatte er doch lediglich abgewehrt, so gut er konnte. Die gute Stimmung ist dahin.

„Intensive Emotionen verzerren unsere Wahrnehmung.“ Dalai Lama

Schüler wie Lehrer haben in einer solchen Situation grundsätzlich gleich reagiert, indem sie auf eine gefühlte Bedrohung reagiert haben. Der Schüler gegen eine imaginäre, der Lehrer gegen eine reale. Tatsächlich laufen Lehrer häufiger Gefahr, aufgrund solcher Überreaktionen eines Schülers verletzt zu werden. Der Lehrer muss also abwehren, um nicht zu Schaden zu kommen. Gleichzeitig verlangt die Lehrerrolle von ihm, seine Schlagstärke unter Kontrolle zu halten. Doch nicht zuletzt möchte er vor seinen anderen Schülern auch souverän aussehen, was bedeutet, dass er sich nicht treffen lassen will. Dies alles verursacht für den Lehrer ein beträchtliches Maß an Stress.

Ein Schüler reagiert in einer solchen Situation verständlicherweise zunächst mit Unverständnis und Rückzug. Er ist sich keiner Schuld bewusst und ist enttäuscht von seinem Lehrer. Er kann nicht nachvollziehen, weshalb es zu dieser starken Reaktion des Lehrers kam, fühlt sich mit Schlägen bestraft.

Für den Lehrer, dem so etwas passiert, ist es ebenfalls sehr unangenehm. Ihn plagt das Gefühl, dass er sich einen Moment nicht genug im Griff hatte. Trotz der drohenden Verletzungsgefahr wird von ihm erwartet – erwartet er von sich selbst –, dass er die Situation souveräner hätte lösen sollen.
 

Woher kommen diese starken Emotionen in der Unterrichtssituation?

Unser Gehirn kann zwischen einer vorgestellten Bedrohung, wie eine Übung sie darstellt, und einer tatsächlichen schlecht unterscheiden. Angriff ist gleich Bedrohung und so wird augenblicklich auf Notsituation umgestellt. Instinktive Reaktionen werden getriggert. Adrenalin ausgeschüttet. „Flight or Fight“ ist die Devise. Im Unterricht wird es (fast) immer „Fight“ sein. Bewusst überlegte Reaktionen sind in einem solchen Moment nicht möglich – weder für den Schüler noch für den Lehrer.

Der Lehrer wird zwar über die Jahre routinierter und empfindet lang nicht mehr jede dieser Situationen als bedrohlich und kann ruhiger reagieren. Doch auch für ihn gibt es immer wieder kritische Momente. Die lassen sich in einem im Kampfkunsttraining nie ganz weg reduzieren. Dies liegt ja in der Natur der Sache. Tatsächlich wäre es im Sinne der Selbstverteidigung auch gar nicht wünschenswert. Es geht doch gerade darum, mit Bedrohungssituationen umgehen zu können und die eigenen Stressreaktionen kennenzulernen, sie zum eigenen Vorteil zu nutzen.
 

Wie mit einem ungewollten Schlagabtausch umgehen?

Als Lehrer:

Sprich mit dem Schüler darüber. Lasse ihn nicht allein. Erkläre ihm, was vorgefallen ist und warum deine Reaktion so ausgefallen ist. Sage ihm, dass dir der Vorfall leidtut. Auch, wenn du weißt, dass du nichts „falsch“ gemacht hast. Eine Entschuldigung ist kein Fehlereingeständnis und tut dem Empfänger sehr gut. So weiß der Schüler, dass du ihn nicht bestrafen oder bloßstellen wolltest.

Als Schüler:

Sprich deinen Lehrer an. Sage ihm, dass du erschrocken über die heftige Reaktion bist und nicht verstehst, warum sie ausgelöst wurde. Bitte um Erklärung. Frage, was du künftig anders machen könntest.
 

Wie können wir im Vorfeld verhindern, dass es zu einer solchen Situation kommt?

Als Lehrer:

  • Beobachte, mit wem du gefahrlos etwas vorführen kannst. Menschen mit unkontrollierter Bewegungsart sind prädestiniert für heftige Aktionen und eignen sich deshalb nicht zum Demonstrieren einer Übung.
  • Achte auf kleine Anzeichen, die sich immer zeigen, bevor so etwas passiert. Der Schüler
       •   hat schon ein paar Mal etwas anderes gemacht, als vorgegeben war.
       •   zeigt sich ängstlich, den Angriff zu machen. Er will nicht versagen.
       •   verliert die Kontrolle über seine Bewegungen.

       •   atmet schneller.
       •   hat bereits viel Muskeltonus am Kontaktpunkt.

Damit übst du beim Unterrichten direkt auch deine Achtsamkeit.

  • Erkläre so klar wie möglich, was das Ziel der Übung ist, die gezeigt wird. Sage möglichst genau, was der Schüler tun soll.
  • Wenn du die Begriffe rechts/links in der Erklärung verwendest, denke daran, dass es viele diesbezügliche Legastheniker gibt. Berühre direkt den Arm, mit dem der Schüler agieren soll.
  • Beim Vorführen sehr langsam bewegen. Die Schüler verstehen es so besser und geraten weniger in Panik.
  • Wenn du merkst, dass eine Emotion hochkommt, halte inne. Erkläre etwas Zusätzliches oder nimm jetzt einen anderen Schüler zum Vorführen. Emotionen können sein z.B. Ungeduld, wenn der Schüler einfach nicht begreift, was er tun soll, oder Ärger, weil du dich provoziert fühlst von seiner Art
  • Erkläre witzig. Dies entspannt das Gegenüber. Zudem lernen Schüler am besten, wenn etwas Spaß macht. Hat der Schüler dagegen Angst, steht er unter Druck und sein Lernen wird beeinträchtigt.
  • Erkläre spannend. Das weckt Interesse und Schüler lernen am besten, wenn sie interessiert sind.
  • Setze nie voraus, dass der Schüler weiß, was er tun soll. Auch dann nicht, wenn du es schon oft gezeigt hast. Erkläre jedes Mal den gesamten Ablauf. Wir können nicht davon ausgehen, dass der Schüler alles versteht – meistens ist das Gegenteil der Fall.
  • Zeige und erkläre das Gleiche auf unterschiedliche Weisen. So haben unterschiedliche Lerntypen eine Chance, zu verstehen, was zu tun ist.
  • Eine Übung zu erarbeiten, braucht Zeit und der Schüler muss es selbst tun. Nur Vorführen reicht nicht, um einen Ablauf zu verstehen, geschweige denn, ihn nachahmen zu können.
  • Überfordere den Schüler nicht. Dies blockiert ihn und löst Stress aus.
  • Fordere die Schüler auf, sich eine Übung gegenseitig zu erklären. Dies fördert rasch das Verständnis und deckt Unklarheiten auf. „Durch Lehren lernen wir“, stellte schon Seneca fest.

Sind diese Punkte gegeben, können die Schüler besser verstehen und umsetzen und ihre Selbstsicherheit steigt genauso wie die Freude am Üben. Sie werden weder unter- noch überfordert und sind motiviert zum Lernen. In dieser entspannten Atmosphäre fühlt sich der Schüler sicher und wird viel weniger in Panik geraten.

Als Schüler:

  • Wenn du etwas nicht verstehst, frage höflich nach – auch während des Vorführens.
  • Wenn du merkst, dass du in Stress gerätst, sage, dass du nicht genau weißt, was zu tun ist.
  • Kurz – beobachte dich selbst. Dies schult deine Eigenwahrnehmung und deine Stressanfälligkeit.

Natürlich wirst du als Schülerin/Schüler des Öfteren im Unterricht mit Trainingspartnern emotionale Situationen erleben. Du wirst dich über Besserwisser ärgern, wütend werden, weil dein Partner immer den letzten Schlag haben will oder schlicht etwas Angst haben und dich der Übung nicht gewachsen fühlen. Kampfkunst ist eben kein Tanzunterricht und fordert uns auf der ganzen Linie heraus.

Nutze die Gelegenheit, um:

  • deine eigenen Stressreaktionen kennenzulernen, sie zu kontrollieren und zu überwinden.
  • deine Grenzen kennenzulernen und sie klar zu kommunizieren – das ist Selbstverteidigung!

So werdet ihr im Unterricht oft lachen und euch freuen, wenn wieder etwas Neues gelungen ist!

Euer Giuseppe Schembri