Editorial

Abschließende Anmerkungen zur „ChiSao- und ReakTsun-Etikette“

In diesem letzten Teil zur ChiSao- bzw. ReakTsun-Etikette geht es noch einmal ums leidige Nachschlagen, um nicht klar erkennbare Sieger und abschließend um bronchialschleimlösende Schlagkraft durch mangelnde Kommunikation…


Noch ein Nachschlag zum Nachschlagen

Es ist zwar so, dass wir im WT – im Gegensatz zu den meisten anderen Stilen – aufgrund unserer ausgeklügelten Positionierung kaum im selben Augenblick vom Gegner getroffen werden können, in dem wir ihn treffen. Unser Treffer schließt seinen nahezu aus, was für andere Stile nicht zutrifft. Das bedeutet, dass Selbsttreffen der beste Schutz ist, den wir haben. Wer untätig ist, wird getroffen. Nachdem also z.B. der Lehrer den Schüler getroffen hat, kann der Schüler den Lehrer treffen, wenn der Lehrer aufhört anzugreifen. Und der Angriff muss ziemlich hart sein, um diese Schutzfunktion zu erfüllen. Härter als man es seinem Schüler antun möchte. Daraus folgt, dass der Schüler im normalen freundlichen ChiSao immer erfolgreich nachschlagen kann und auf einen Treffer, der dabei entsteht, nicht stolz sein kann. Ein wahrer Treffer, auf den man stolz sein kann, liegt aber nur vor, wenn es gelingt, ohne besonderen Kraftaufwand, ohne besondere Schnelligkeit, eine Situation so schnell auszunutzen, eine Öffnung beim anderen zu entdecken oder sie gar – wie absichtslos – zu provozieren und mit perfektem Timing und ebenso perfekter Koordination einzudringen, möglichst noch so, dass die Arme des anderen für diesen Augenblick immobilisiert sind. Nur wenn solche Kriterien erfüllt sind, dürfen wir uns selbst auf die Schulter klopfen.

 

Von der Schwierigkeit, im ChiSao – für Zuschauer erkennbar – der Sieger zu sein

In einem „freundlichen“ ChiSao für Zuschauer deutlich erkennbar zu gewinnen, ist schwierig. Im ChiSao geht es bekanntlich nicht um Siegen, sondern um Üben. Aber trotzdem mag es gelegentlich Gründe geben, seine Überlegenheit zeigen zu wollen.

Ein unsensibler Partner, der nichts mitbekommt, mag sich nach einem kleinen ChiSao-Spiel sogar als Sieger vorkommen, obwohl er immer nur der zweite war, indem er durch Nachschlagen traf. Und dies nur, weil der Bessere zu nett war, um nachdrücklich zuzuschlagen.

Wie also macht man dem anderen oder vorhandenem Publikum gegenüber unmissverständlich – aber ohne Brutalität – deutlich, dass man selbst der Überlegene ist?

Mein SiFu hat sich angewöhnt, vor Publikum immer dann zu kichern, wenn die Situation nicht ganz eindeutig ist, denn wer lacht, der muss ja der Überlegene sein.

Ich hatte justament dieses Problem vor dreißig Jahren irgendwo im Ausland, als ein „Wing Tsun-Meister“ eines anderen Stiles eines meiner ChiSao-Seminare besuchte – und das zusammen mit seinen ihn tief bewundernden Schülern. Natürlich zeigte ich mich damals bei Vorführungen von meiner „besten“, d.h. abschreckendsten, Seite und war erstaunt, dass es der Gast, nach Beendigung meines Unterrichts, trotzdem wagte, mich vor seinen und meinen Schülern zum ChiSao herauszufordern.

Eine vertrackte Situation, bei der ich nichts zu gewinnen hatte, denn …

  • gewinne ich, verliert er Respekt bei seinen Schülern und ich ihn als freundlichen Kollegen oder potentiellen Schüler.
  • lasse ich ihn nachschlagen, dann verliere ich Reputation.
  • schlage ich so hart zu, dass er physisch nicht mehr nachschlagen kann, zeige ich mich meinen Schülern als Brutalo.

Also „wählte“ ich klug eine der zwei „Nackenzug-Bewegungen“ aus dem ersten Satz der Holzpuppenform, indem ich ihn aus dem PoonSao heraus blitzschnell griff und im Würgegriff hatte, aus dem es für ihn kein Entrinnen und in dem es für ihn keine Luft gibt. Er hatte keine Chance, gar keine. Als ich ihn kollegial wieder freigab, damit es für ihn nicht final oder zu peinlich wurde, wandte er sich zu seinen Schülern und sagte: „Das hat er aber gut gemacht, genauso wie ich euch das immer zeige“, und zu mir, „können Sie das noch einmal machen?

Diese zweite Herausforderung alarmierte mich. Hatte er vielleicht doch eine Antwort darauf parat, mit der er mich abwehren könnte? Denn nun wusste er ja, wie ich angreifen würde. Ich ließ mich auf die Dummheit ein, denselben Angriff zu wiederholen.

Und wieder kam er nicht heraus, aber ich war auch so schnell oder er so langsam gewesen, dass er nicht einmal dazu kam, die kleinste Gegenmaßnahme zu starten.
Und wieder die Bitte um Wiederholung. Mit demselben Ergebnis.
Und wieder lobte er mich. Beim zehnten Mal durchschaute ich seinen Trick: Der Pfiffikus hatte gemerkt, dass er keine Chance hatte, und spielte sich nun als mein Lehrer auf, der mich wie seinen Schüler lobte. Und tatsächlich kam der Trick bei seinen mitgebrachten Schülern an, denn sie hatten ja nicht erlebt, dass ihr Meister vergeblich gegen meinen Griff ankämpfte. Scheinbar erduldete er ihn freiwillig und tat so, als ob er mich (!) prüfen wollte. Nachdem mir das klar war, gönnte ich mir noch eine kleine Rache: Ich ließ ihn so lange in meinem Würger, dass er umgefallen wäre, wenn ich ihn plötzlich losgelassen hätte. Aber auch das durfte ich nicht übertreiben, denn das wäre Brutalität gegen einen (freiwillig?) Wehrlosen gewesen. Diese im Nachhinein witzige Begegnung zeigte mir, dass ChiSao zum Vergleichen, zum Beweisen, wer besser ist, also auch für den Wettkampf, völlig ungeeignet ist.
Aber wussten wir das nicht schon vorher? Und aus anderen Gründen?


Mangelnde Kommunikation

Normalerweise steht der ChiSao-Unterricht unter einem Thema, z.B. dem Üben eines einfühlenden DjamSao. Ein möglicher Fehler, den wir begehen könnten, wäre es, mit der Hand den Angriff des Lehrers herunterzudrücken. Nun läuft ChiSao-Unterricht meist stumm ab, nicht, weil jeder Lehrer grundsätzlich mundfaul ist, sondern damit der Schüler aus seinen Fehlern lernt, ohne den Umweg über die störende Sprache. Viele Lehrer haben sich wohl die ersten Worte des „Tao Te King“ zu sehr zur Maxime gemacht: „Das Tao, das ausgedrückt werden kann, ist nicht das ewige Tao“, und sind stolz im Geiste des Zen-Buddhismus darauf, keine Worte und keine Erklärungen zu geben. Vielleicht sagen sie sogar: „Der Wissende sagt es nicht und der Redende weiß es nicht“. Wobei die scheinbare Tiefgründigkeit des Satzes nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der, der das gerade gesagt hat, es dann ja auch nicht weiß. Wie auch immer, manche Lehrer fühlen, dass sie in dem Augenblick, da sie über ein Ding sprechen, etwa den BongSao, den es „eigentlich“ nicht gibt, wie es außerhalb des BlitzDefence-Programmes keine vorgeplante Technik geben sollte, das Ziel verfehlen. Deshalb wollen sie in ihrem Unterricht nur Situationen schaffen, die dem Schüler zu eigener Erkenntnis verhelfen.

Statt nun ständig zu sagen: „Drück‘ meine Hand nicht herunter“, geht der Lehrer mit „Laufender“ oder „Zirkelnder Hand“ (HuenSao) um den herunterdrückenden DjamSao herum und gibt engen Fauststoß über den DjamSao. Hört der Schüler nun nicht auf, mit DjamSao herunterzudrücken, stellt er also den Fehler nicht ab, sondern wehrt er stattdessen den Fauststoß ab, der ihn belehren soll, dann könnte beim Lehrer der Eindruck entstehen, dass der Schüler die Unterweisung seines Lehrers in den Wind schlägt und lieber den Fauststoß sperrt, um dem Lehrer zu zeigen, dass es doch kein Fehler ist, den DjamSao nach unten zu drücken. Hat der Lehrer das Gefühl, dass der Schüler an der Krankheit der Besserwisserei leidet, mag er meinen, nur das Beste für seinen Schüler zu wollen, wenn er den Fauststoß so beschleunigt, dass sein Schüler körperlich davon überzeugt ist, dass Widerstand und Herunterdrücken des DjamSao kein gutes WingTsun ist.

Auch hierzu kann ich eine lustige wahre Begebenheit zum Besten geben, die mir Ende der 1970er Jahre mit meinem (leider verstorbenen) SiHing Leung Tuen widerfuhr: Wir beide trainierten „PakDar innen“ aus der 1. Partnerform, d.h. er gab mir „PakSao mit Fauststoß innen“ und ich wehrte seinen Fauststoß meinerseits mit „Pak/Fauststoß innen“ ab. Das Ganze geschieht mit sehr hoher Geschwindigkeit, sonst wird man getroffen. Obwohl ich mein Bestes gab, „bestrafte“ mein KungFu-Bruder meine offenbar zu schwache Schlagtechnik mit einem harten Fauststoß. Ich steigerte mich bis kurz vor der maximalen Schlagkraft. Aber Leung Tuen war damit nicht zufrieden, er legte noch etwas mehr drauf, um mich zu fordern. Am Ende hatten wir uns gegenseitig auf bronchialschleimlösende Schlagkraft gesteigert, aber keiner gab auf.

Erst Jahre später, als Leung Tuen ein paar Brocken Englisch sprach, sprachen wir noch einmal über diesen Vorfall und fanden heraus, dass wir beide einem Missverständnis aufgesessen waren. Bei der Fauststoßübung kommt es, was ich nicht wusste und mir niemand gesagt hatte, auf den Pak an: Der Fauststoß selbst soll in dieser Übung nur mit leicht geöffneter Faust und sehr kontrolliert erfolgen! Wahrscheinlich schlug ich, wie von den harten Stilen gewöhnt, mit „schwerer“ festgeballter Faust und leichtem „fliegendem“ Ellbogen. Wobei die Kraft nur aus den Armen und aus der Schulter kommt statt aus dem ganzen Körper. Mein erster Fauststoß war schon zu hart gewesen, also wollte mein SiHing mich korrigieren, aber da er kein Englisch sprach, gab er mir stumm einen ebenso kräftigen Stoß vor die Brust. Ich aber schloss daraus, er habe stärker geschlagen als ich, um (!) mir zu zeigen, dass mein Stoß zu „schwach“ war. Also steigerte sich unser beider Schlagkraft, ohne dass einer klein beigab, so dass es ein Wunder war, dass keiner einen Brustbeinbruch erlitt. Manchmal ist also auch beim ChiSao Kommunikation Trumpf.

Dies ist der letzte Auszug aus meinem Buch „Kampflogik 3!“, erschienen im EWTO-Verlag Juni 2011, das jetzt in der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage mit nunmehr 441 Seiten wieder verfügbar ist.


Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht