WingTsun

Als Ururenkelin Yip Mans in China

Einmal um die Welt wollte ihr Verlag Kerstin Finkelstein schicken, immer auf der Fährte von deutschen Auswanderern und ihren Clubs und Stammtischen. Doch was liegt näher, dachte die WT-lerin sich vor dem Computer sitzend und die Homepage der „German Speaking Ladies Group Hong Kong“ betrachtend, als einen Abstecher zu wagen, ins „Kampfkunst-Mutterland“ China?

Ich beschloss, den Welt-Rundflug in Hong Kong zu unterbrechen und statt durch die Luft auf dem Landweg zur nächsten großen deutschen Gemeinschaft nach Thailand zu fahren.

Mit dem Empfehlungsschreiben Großmeister Kernspechts in der Tasche machte ich mich also in der ehemaligen britischen Kolonie auf den Weg in die Nathan Road, um mich für das „National Instructors Seminar“ in Shunde (Mainland China) vom 22.-24. Oktober anzumelden. Im „Headquarters“, einem etwa 50qm großen Büro- und Lagerraum, erwartete mich Robin, der glücklicher Weise fließend Englisch sprechende Assistent Großmeister Leung Tings. Auch der Empfang durch Leung Tings Frau, die kurz darauf erschien, war sehr herzlich. Sie bot mir an, mich am Freitag in meinem Hotel abzuholen und gemeinsam zur Fähre Richtung Seminar zu fahren. Schon heute abend könne ich auch hier in der Nathan Road zum Training kommen.

Das Angebot nahm ich natürlich an und erschien nach mehrjähriger, erfolgreicher WingTsun- Erziehung auch pünktlich in der Schule. Außer dem unterrichtenden Sifu war sonst allerdings noch niemand da: In Hong Kong habe man Gleitzeiten, hieß es, schließlich würden manche länger arbeiten und kämen nie pünktlich. Im Laufe der nächsten Stunde klopfte es denn auch wirklich immer mal wieder an der Schultür, so dass insgesamt immerhin gut zwanzig WT-ler mit einem lauten Gruß hereinkamen. Die meisten zogen sich um, einige, darunter der Assistenzausbilder, beließen es lieber bei Jeans und Hemd. Die in Hong Kong scheinbar lebenswichtigen Handys wurden von den Schülern auf sämtlichen vorhandenen Ecken und Kanten platziert, so dass man auch während der Stunde gut erreichbar sein konnte. Nach all dem, was ich über „Tradition“ und „Disziplin“ in China gehört hatte, war ich doch einigermaßen erstaunt über die fröhlichen Gespräche und regelmäßigen Witze, die nur vom melodiösen Klingeln der Handys unterbrochen wurden. Außer mir war nur eine weitere Frau gekommen, die genauso wie alle Männer anfing zu kichern, wenn ich sie zum „Drehen“ aufforderte. Da mein Chinesisch sich auf die zum Überleben notwendigen ca. zehn Wörter beschränkt, habe ich keine Ahnung, was sie sich so alles über mich erzählten, aber die Stimmung schien gut und ich habe immer sicherheitshalber genickt und zurück gelacht.

Technisch können mich meine Berliner Trainingsbrüder allerdings deutlich eher ärgern, was allerdings auch damit zusammen hängen dürfte, dass zumindest in dieser Klasse kaum langjährige Schüler waren. Abgesehen vom Lehrer trug niemand das kleine Schwarze‘. Nach 1,5h nahm ich die Gleitzeit in Anspruch und verabschiedete mich, um zum deutschen Stammtisch zu eilen, schließlich war das ja mein eigentliches „Business“.

Am Freitag morgen machten Frau Leung und ich uns gemeinsam auf den Weg zur Fähre, wo wir auf sieben Hong Kong-Chinesen und einen Südkoreaner trafen. Nach 2h Fahrt kamen wir in Shunde an, von wo es noch eine gute halbe Busstunde bis zur Stadt war. Dort brachten wir unsere Sachen ins Hotel und gingen noch gemeinsam essen, bis um 16.00 Uhr dann der Lehrgang begann.
Zehn Chinesen warteten schon in der zur Schule umgebauten Wohnung, wobei mich Ning gleich begeistert begrüßte: Sie hatte schon befürchtet, einzige Frau des Wochenendes zu sein. Wie die anderen neun Festlandchinesen war sie eigens für diesen Lehrgang von weither angereist. Denn während es in Deutschland inzwischen beinahe in jeder Kleinstadt eine WingTsun-Schule gibt, ist China diesbezügliches Brachland. Um genau das zu ändern, veranstaltet Großmeister Leung Ting, der den Unterricht pünktlich mit einer kurzen Begrüßung einläutete, auch dreimal im Jahr diese Ausbilderlehrgänge. Wie in Hong Kong war auch hier die Atmosphäre extrem entspannt und locker.

Wer Durst hatte trank, wer müde war, setzte sich hin und alle paar Stunden gab es eine Pause zum gemeinsamen Essen gehen. Dabei gab es allerdings immer zwei Fraktionen: die Hong Konger einerseits, die Chinesen andererseits. Meine Frage, warum man nicht gemeinsam am Tisch sitze, wurde deutlich beantwortet: In Deutschland wären wir doch auch noch immer in Ost und West getrennt. Als einzige Europäerin wechselte ich schnell die Fraktion und ging fortan mit den Chinesen aus. Schließlich wollte ich ja nach dem Kurs durchs Land reisen und suchte hier Kontakte und Tipps. Das war sprachlich nicht immer ganz einfach. Während Robin mir zum Glück im Unterricht alles übersetzte und in der Hong Konger Fraktion beinahe jeder zumindest etwas Englisch konnte, musste ich mich bei den Chinesen voll auf Ning und den Foshaner Bodybuilder Dalin verlassen. Wir anderen bestaunten uns nur wortlos und drückten beim gemeinsamen Training gestenreich an unseren Armen und Beinen herum.
Trainiert wurden vor allem Chi-Sao und Formen, wobei GM Leung Ting manchmal auch unabhängig von der Graduierung allen dieselben Übungsabläufe zeigte und häufiger für allgemeine, theoretische Erklärungen des „Kampfprinzips WingTsun“ das praktische Training unterbrach.

Am Samstag gingen alle Lehrgangsteilnehmer gemeinsam essen, wobei GM Leung Ting über seine Zukunftspläne für WingTsun in China sprach. Nach drei Tage Training (von 10.00 bis 23h!) fuhr ich mit Dalin, der mich zu sich nach Hause einlud, ins nahe gelegene Foshan. Ich war positiv überrascht über die chinesische Gastfreundschaft und verbrachte zwei sehr spannende Tage in der Heimatstadt meines Ururgroßvaters: Mit Dalin und seiner zur Übersetzung herangezogenen Schwägerin besuchte ich das Yip Man-Museum, mehrere Tempel und ging anschließend zur Fußreflexzonenmassage, die offenbar tatsächlich funktioniert, schließlich schmerzte bei mir nur der Punkt ganz erheblich, welcher für „sleep problems“ stand. Die Massage konnte allerdings nicht das Schnarchen von Dalins Schwiegermutter abschalten, neben der ich mein Nachtlager auf der landestypischen Bastmatte bezog.

Am nächsten Tag zog ich weiter Richtung Westen. Auf meinem Weg nach Thailand besuchte ich noch zwei WingTsun-Geschwister, produzierte Menschenaufläufe in Orten, die noch nie blonde Haare gesehen hatten, aß Nudelsuppe mit Stäbchen aus Gefäßen, die wie Nachtöpfe aussahen und ließ mich in diverse Kampfkunstschulen einladen, um dort eine „kleine Idee“ des WingTsuns vorzuführen. Es waren dank unserer Kampfkunst drei spannende und vielseitige Wochen, in denen ich kein Postkartenland für Touristen sah, sondern wirklich einen kleinen Teil echtes China kennen lernen durfte.

Xièxiè, Danke!