WingTsun

Boxen, Rollstuhl und WingTsun

In unserer heutigen Zeit, wo Stress- und Burnout-Syndrome eine moderne Plage zu sein scheinen, Politik und Wirtschaft uns unsicher machen und Machtspiele und Krieg uns in Angst und Schrecken versetzen, müssen wir uns psychisch und auch körperlich täglich vielen Herausforderungen stellen. Aber, wie würden wir alles schaffen, wenn wir körperlich nicht mehr in der Lage wären, die täglichen Anforderungen zu bestehen? Was wäre, wenn unser Leben plötzlich durch ein Ereignis vollkommen auf den Kopf gestellt würde?

Boxen

In einem kleinen Ort in Oberbayern, im Herbst 1985, zog der 16-jährige Christian Triendl mit Vorfreude und Aufregung seine ersten Boxhandschuhe an. Der Geruch des neuen Leders und das Gefühl von den Handschuhen überzeugten ihn, dass er wirklich ein Boxer werden würde; sein Traum könnte wahr werden. Es war für ihn klar: Das war genau, was er wollte – nämlich ein Boxer werden. Von dem Moment an trainierte er täglich hart, nahm regelmäßig an lokalen und regionalen Meisterschaften teil und war in den meisten Kämpfen erfolgreich. Er gewann viele Meisterschaftstitel in Oberbayern und wurde als einer der fünf besten Boxer in Deutschland eingeschätzt. Er schaffte es sogar, den Pokal eines Süddeutschen Vizemeisters zu holen.

Sein Bestreben war es Deutscher Meister zu werden und das setze er sich zum Ziel. Sein Erfolg im Ring, das wachsende Selbstbewusstsein und die Auszeichnungen, die er erhielt, trieben ihn an, noch weiter zu kommen. Er wurde ein gern gesehener Gast bei vielen verschiedenen Veranstaltungen. Er war anerkannt und hoch respektiert. Das Leben war gut und er genoss es.
 

Als sich seine Box-Kariere entwickelte und seine Erfolge immer häufiger wurden, wechselte Christian in die nächste Gewichtsklasse, das Mittelgewicht. Nachdem er das Kampfgewicht erreicht hatte, betrat er diese Arena. Der Unterschied zwischen seiner bisherigen Gewichtsklasse und seiner aktuellen war jedoch enorm. Aber so hart er auch trainierte, konnte er die schwereren und erfahreneren Boxer des Mittelgewichts nicht besiegen. Sein Dilemma: Er war zu schwer, um in der leichteren Gewichtsklasse zu kämpfen und mühte sich ab mit dem Mittelgewicht. Diese Frust nagte an ihm. Die Erkenntnis, dass er in dieser Gewichtsklasse nicht weiterkommen würde und die Enttäuschung über sich selbst, führten leider dazu, dass er seine Boxhandschuhe 1995 an den Nagel hängte.

Zwei Jahre später, 1997, gründete Christian mit einem Freund seine eigene Baufirma, die von Anfang an Erfolg hatte. Die Arbeit war hart, aber er baute sich einen guten Ruf für Qualitätsarbeit und Zuverlässigkeit auf.

Es war ihm klar, dass seine Ziele in Bezug auf seine Boxkarriere für ihn unerreichbar waren. Obwohl sein Baugeschäft gut lief, fehlte ihm aber etwas in seinem Leben und er fühlte sich unzufrieden. In ihm war eine Leere. Er spürte irgendwie ein verlorenes Zugehörigkeitsgefühl und geriet in eine depressive Stimmung. Die Herausforderungen des Boxens fehlten: „Das Arbeiten auf einer Baustelle ist nicht dasselbe, wie im Ring zu trainieren und zu kämpfen.“

Er glaubte, wenn seine Box-Karriere zu Ende wäre, dann würde sein Leben auch sinnlos sein. Ohne eine positive Orientierung drehte sich sein Leben im Kreise. In der Zeit kehrte er zu einem Leben zurück, als ob er 18 Jahre alt wäre, das hieß für ihn: „Vollgas und los!“

In dieser Zeit nahm er sein Leben weniger ernst, als er es heute tun würde. Er stürzte sich ins Partyleben und raste mit überhöhter Geschwindigkeit auf seinem Motorrad herum – die perfekte Kombination für eine absolute Katastrophe.
 

Rollstuhl

1999 trat diese Katastrophe ein. Ein tragischer Unfall hinterließ ihn von der Brust abwärts gelähmt. Sein Schicksal war nun ein Leben in einem Rollstuhl – abhängig von der Hilfe anderer. Dieser einst so stolze junge Mann musste jetzt gebadet, angekleidet und gepflegt werden.

Er musste sich mit den dauerhaften Konsequenzen von seiner Behinderung abfinden. Während seines langen Krankenhausaufenthalts traf er viele andere Unfallopfer. Ein besonderes Unfallopfer hat ihm geholfen, den Mut für seine unsichere Zukunft zu finden. Dieser Patient war vom Nacken ab gelähmt und demzufolge schwerer geschädigt als er selbst. Aber dessen positive Ausstrahlung beeinflusste Christians Entscheidung für seine weitere Zukunft. Er konnte entweder aufgeben, ein Krüppel sein und sich von allen umsorgen lassen oder er konnte kämpfen, sein Unternehmen weiterentwickeln und sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Er traf seine Wahl.

Seine Genesung und Rehabilitation waren ein sehr langer und sich hinschleppender Verlauf, erstreckten sich über etliche Jahre, was ihn oft äußerst müde und niedergeschlagen machte. „Es schien wie ein niemals endendes Leben von Physiotherapie hier, Krankenhaus da, eine andere dreimonatige Rehabilitation irgendwo anders.“

Aber seine Entschlossenheit, seine Existenz wieder aufzubauen, wurde im Jahr 2000 belohnt. In einem Rehabilitationszentrum in Italien traf er seine heutige Ehefrau Chiara, eine sehr schöne, herzliche und liebevolle Frau. Für Christian war es einfach Liebe auf den ersten Blick.

Ein Jahr später trafen sich Christian und Chiara vor dem Altar. Sie heirateten und zum ersten Mal hatte Christian wieder ein Gefühl von wirklichem Glück. In den folgenden Jahren, nachdem er sein eigenes Haus gebaut hatte, wurde sein Glück total erfüllt: 2008 kam seine kleine Tochter Stella zur Welt.
Jetzt lag die nächste Herausforderung vor ihm. Er hatte seine Familie, sein Haus und sein Geschäft. Doch er sehnte sich immer noch danach, in einer Gemeinschaft sportlich aktiv sein zu können.

Er besuchte oft seinen früheren Box-Club. Die Leute freuten sich zwar, ihn zu sehen und dass er wohlauf war. Aber sie wussten nicht, wie sie sich ihrem Champion gegenüber verhalten sollten, weil er jetzt in einem Rollstuhl saß, und das führte zu einem beiderseitigen unbehaglichen Gefühl und baute gegenseitig Distanz auf …

Christian akzeptierte gezwungenermaßen, dass er seine Pläne von einer Box-Karriere aufgeben und zu einem Teil seiner Vergangenheit werden lassen musste.

Neben dem Supermarkt, den er täglich besucht, liegt die WingTsun-Schule Gmund am Tegernsee. Wenn er nach dem Tagesgeschäft in seiner Baufirma für seine Familie einkaufen ging, hielt er oft an, beobachtete die Trainierenden und registrierte, dass die hauptsächliche Ausrichtung der Bewegungen auf den Armen lag.
 

WingTsun

Er erkannte die Verbindung zwischen diesen Bewegungen, dem Fitnesstraining und dem körperlichen Austausch und das faszinierte ihn total. Und als der Kämpfer, der er nun einmal ist, klopfte er einfach vor einer seiner täglichen Einkaufstouren an die Tür und fragte, ob er mit uns trainieren dürfe.

Unser Schulleiter Sihing Michael Böffel hieß Christian willkommen, denn er sah kein praktisches Problem darin, dass er mit uns trainiert. Und Christians enthusiastisches und erwartungsvolles Lächeln war sowieso unwiderstehlich.

Nachdem Christian 1 ½ Stunden Probetraining absolviert und genossen hatte, fragte er, ob er für eine begrenzte Zeit von drei Monaten beitreten dürfe, weil er nach einer Trainingseinheit noch nicht abschätzen könne, ob er körperlich dazu in der Lage sei. Aber die Idee von WingTsun hatte ihn absolut begeistert. Sihing Michael nahm ihn als Schüler an. Er nahm die Herausforderung gern an, die das Unterrichten von Christian für ihn mit sich bringen würde.

Weil die erste Form des WingTsun – die SiuNimTau – sich überwiegend auf die Bewegung der Arme konzentriert, hatte Christian fast keine Probleme, sie zu erlernen, und er konnte sie sehr schnell hervorragend ausführen.

Während des Trainings stellte er für sich einen sehr großen und fundamentalen Unterschied für eine Kampfsituation fest: Welchen Einfluss es hatte, dass nur noch seine Arme und der Kopf funktionieren konnten, statt wie früher sein ganzer Körper. Die weitere Ungewöhnlichkeit ist, dass er aus der sitzenden Position eine ganz andere Perspektive seiner Umgebung hat, als jemand, der steht.

Genau das erkannte Sihing Michael Böffel sofort. Michael beherzigte beide Überlegungen und dachte darüber nach, wie er Christian für sein WingTsun am besten helfen könne.

Christian lebte sich schnell in der Schule ein und wegen seines Enthusiasmus‘, Muts und seiner freundlichen und entschlossenen Einstellung wurde er von seinen Trainingspartnern sofort ins Herz geschlossen.

Nach den ersten drei Monaten war Christian ganz erpicht darauf, seine Prüfung für den 1. Schülergrad zu absolvieren. Er verlängerte deshalb seine Mitgliedschaft und unterschrieb einen normalen Jahresvertrag. Kurze Zeit später schon trug er stolz sein T-Shirt mit dem aufgenähten Abzeichen für den 1. Schülergrad.

Als ich eines Abends zur Schule kam, sah ich durchs Fenster, dass mein SiHing Michael Böffel in einem Rollstuhl saß. Voller Sorge ging ich hinein, um ihn zu fragen, ob er okay wäre und was mit ihm passiert sei. Er antwortete mir: „Christians SiuNimTau ist super, aber ich muss herausfinden, wie ich ihm die zweite Form beibringe.“


Dann fuhr er fort, seine von ihm entwickelte Rollstuhlversion der ChamKiu zu trainieren. Ich fragte ihn: „Wie zum Himmel bist du auf die Idee gekommen, ChamKiu im Rollstuhl zu machen? Er antwortete trocken: „Ich habe mich einfach hineingesetzt und es probiert.“

Mit Christian zu trainieren, ist immer ein Vergnügen, auch wenn der ehrgeizige Kämpfer herauskommt. Er ist unerschütterlich, studiert und trainiert regelmäßig, normalerweise mindestens zwei Mal, wenn nicht sogar drei Mal die Woche.

Zurück zu dem Anfang von diesem Artikel, wie würdest du es schaffen, wenn du in dieser Lage wärest …?

… plötzlich festzustellen, dass die normalen Dinge unseres alltäglichen Lebens – wie z.B. Laufen, Sich-etwas-aus-dem-Schrank-Holen, Tanzen, Ins-Badezimmer-Gehen oder Einkaufen-Gehen – nicht mehr ohne Weiteres möglich sind. Wo würden wir die Stärke und die Motivation erhalten, um neue Herausforderungen anzunehmen?

Christian ist eine wahre Inspiration für uns alle. Er ist seinem Schicksal entschieden entgegengetreten und zeigte einen wahren Kampfgeist und eine starke Entschlossenheit, indem er sich von seiner Behinderung sein Leben nicht beenden ließ. Diese Runde hat gerade angefangen und Christian hat beschlossen und gezeigt, dass er es komplett durchziehen wird. Ein Vorbild für uns alle.

Eine der sehr wertvollen Lektionen, die ich von Christian gelernt habe, ist, dass Politik, Wirtschaft und unsere Gesellschaft sehr wichtige Angelegenheiten sind und dass man sich darum kümmern sollte. Aber du kannst nur einen positiven Beitrag zu allem, was du tust, bringen, wenn du es mit einer positiven und nicht selbstbemitleidenden Einstellung anpackst.

Danke, Christian!

Text: Alun Graham/Johanna Grimm
Fotos: Christian Triendl/Johanna Grimm