Editorial

Bruce Lee zwischen WingTsun (Wing Chun) und Jeet Kune Do

„In der langen Geschichte der Kampfkünste scheint etwas bei den meisten Kampfkünstlern – und das sowohl bei Lehrern und als auch bei Schülern – tief verwurzelt zu sein: der Instinkt zu folgen und zu imitieren. Dies ist zum einen durch die Art des Menschen und zum anderen durch die Traditionen der verschiedenen Stile begründet. Deshalb ist es selten, einen auf erfrischende Weise originalen Meisterlehrer zu finden. Der Ruf nach einem „Pointer of the Way“ (der den Weg zeigt) ist überall zu hören.“
Bruce Lee, Tao of Jeet Kune Do, S. 14

Viele, auch Leute, die es besser wissen, reduzieren Bruce Lee auf seine Filme. Aber weit mehr als der inspirierendste KungFu-Schauspieler aller Zeiten war er genialer Kampfkunst-Philosoph und -Stratege, Pionier der Kampfkunst-Wissenschaft – in einer Liga mit Sun Tsu, Musashi und Lichtenauer. Bruce Lee war der Wegbereiter des Vollkontakt, der Körperschützer, der heutigen Mixed Martial Arts. Er hat die Welt aufmerksam gemacht auf seinen ursprünglichen Stil, das vorher im Westen unbekannte WingTsun (Wing Chun).
Vor allem hat er uns Kampfkünstler von der religiösen Abhängigkeit von doktrinären Stilen und sinnlosen Traditionen und toten Techniken befreien wollen. Dieser Freidenker hat schon Anfang der 1970er Jahre die Essenz der Selbstverteidigung mit ihren Faktoren: Aufmerksamkeit, Beweglichkeit, Balance, Körpereinheit, Distanz- und Tastsinn, Timing und Kampfgeist begriffen, während die meisten von uns selbst heute – 40 Jahre später – immer noch Katas und Techniken auswendig lernen, im Glauben, dass der Gegner auf der Straße denselben Stil gelernt hat.

Bis in die 1970er Jahre war die Zugehörigkeit zu einem Stil alles und damit alles entscheidend. Wie sehr ein Stil durch seine Struktur die Entfaltungsmöglichkeiten seines Anwenders limitiert und determiniert, hat zuerst Bruce Lee erkannt, der daraufhin mahnte: „Benutze keinen Stil als Stil, keine Begrenzung als Begrenzung!“ (Use no style as style, no limitation as limitation!)

Wenn man mit einem Gegner zu tun hat, der einen spezifischen Kampfstil praktiziert, dann hilft es, die Strategie dieses Stiles zu kennen. Aber was macht man, wenn der andere keinem spezifischen Stil mit dazugehöriger Strategie angehört, sondern z.B. zu den Anwendern der sog. Mixed Martial Arts gehört, Leuten, die durch Cross Training gewohnt sind zu ringen oder zu schlagen oder zu treten, je nachdem, was gerade gebraucht wird?
Dann kann man die Zusammenhänge im scheinbaren Chaos des Kampfes nur erkennen, indem man die Struktur des Gegners erkennt und daraus Schlüsse zieht.

Was ist nun „Struktur“? Ein etwas verschwommener Ausdruck, der in der Kampfkunst-Literatur oft vorkommt und unter dem man offenbar die „Hardware“ eines Stiles – z.B. den Kampfstand – versteht: die Standbreite, Standlänge, Gewichtsverteilung.
Stellen wir uns ein Geschütz vor, eine Kanone, dann bestimmt das Fahrgestell der Kanone, wie manövrierfähig, wie beweglich die Kanone ist, wie viel Rückstoß sie verträgt usw.
Die Struktur eines gegebenen Stiles begrenzt und determiniert seine Möglichkeiten, anzugreifen, aber auch abzuwehren.
Deshalb ist es auch nicht ohne mehr oder weniger große Modifikationen möglich, „Techniken“ eines Stiles in einen anderen Stil zu übernehmen, wenn sich die Strukturen der beiden Stile zu sehr unterscheiden.
Will zum Beispiel ein Stil, der von der Struktur her einen langen und tiefen Kampfstand aufweist, z.B. die kurzen Ellbogentechniken aus dem thailändischen Muay Thai assimilieren, wird er damit erfolglos bleiben, solange er nicht seinen Stand, also sein „Abschusssystem“ (delivery system), vorher verändert. So könnte das traditionelle Shotokan, wenn es denn wollte, nicht das Motto des WingTsun (Wing Chun), nur zu treten, wenn man gleichzeitig mit der Hand treffen kann (Motto: „Keine Hand – kein Fuß“), erfüllen. Der tiefe Stand würde es ihm nicht ermöglichen.

Einer größeren Öffentlichkeit wurde die Wahrheit von Bruce Lees profunden Erkenntnissen erst später bewusst, als die ersten „Full Contact“-Turniere Realität in die romantischen Vorstellungen traditioneller Stilisten brachte. Karate-Kämpfer begannen sich von Box-Trainern Boxtechniken beibringen zu lassen, weil ihre traditionellen Karate-Fauststöße (besonders mit Handschuhen) nicht die erwartete „tödliche“ Wirkung zeigten. So entstand Kickboxing als eine Mischung von Boxen und Karatetritten.
Als auch Tritte zu den Beinen zugelassen wurden, brachte das eine weitere revolutionäre Veränderung und die Assimilation von Thaibox-Techniken. Dass tiefe, sog. „Pferde“-Stände dagegen nicht bestehen können, zeigte sich spätestens beim Untergang des traditionellen KungFu, als der Hongkonger KungFu-Verband fünf seiner Kämpfer (Wing Tsun/Wing Chun war nicht dabei) gegen fünf Top Thaiboxer antreten ließ: Nicht ein einziger traditioneller KungFu-Kämpfer überlebte mehr als die erste Runde.

Bruce Lee erkannte sogar im Wing Chun, das er in Hongkong vom Altmeister Yip Man und seinen SiHings wie Wong Shun Leung und William Cheung erlernte, Begrenzungen, die weitere Evolution und Anpassung an die neu aufkommenden Stile verhinderte. Darum modifizierte er das traditionelle Wing Chun (WingTsun, Ving Tsun usw.) und änderte, um diesen Bruch deutlich zu kennzeichnen, den Namen seines Stiles zunächst zu Jun Fun Gung Fu und am Ende zu Jeet Kune Do (JKD).
Ich trainierte in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren mit Bruce Lees erstem Schüler, Jesse Glover, und mit seinem zweiten, dem inzwischen verstorbenen Ed Hart in Seattle, USA, und in Deutschland. Ich traf Taky Kimura, Leroy Garcia und Mike Lee und hatte interessante Treffen und Korrespondenz mit James DeMile.
Die anderen drei Phasen von Bruce Lees Schaffen in Oakland, Los Angeles und Chinatown habe ich regelmäßig anhand von Publikationen und Videos verfolgt. Für mich sind Bruce Lees Jun Fun Gung Fu und sogar sein noch viel radikaler modifiziertes Jeet Kune Do Stilrichtungen des WingTsun, da sie immer noch den WingTsun-Prinzipien folgen; denn das WingTsun definiert sich nicht als die Summe seiner Techniken, sondern über seine Prinzipien.
Mit seiner Erkenntnis, die vor ihm keiner geäußert hatte, dass Wing Chun seine Begrenzungen hatte, lag Bruce Lee durchaus richtig. Aber nur das Wing Chun (WingTsun usw.), das er kannte, war begrenzt. Obwohl Bruce Lee sonst keine Dogmen gelten ließ, machte seine Freiheitsliebe vor dem Wing Chun, seinem „Familien-Stil“, Halt. Es gelang ihm – in diesem Falle – nicht, sich aus der Rolle des Schülers zu lösen und sich von Tabus zu befreien, die nur als Lernschritte für den Schüler gelten, aber von Fortgeschrittenen überschritten werden dürfen. Ebenso wenig erkannte er, dass einige Gebote und Verbote nur unter bestimmten Bedingungen gelten und keinesfalls absolute Gültigkeit haben.

Nach einem etwas unglücklichen Kampf mit einem unbequemen Gegner, für dessen siegreiche Beendigung er seiner Meinung nach zu viel Zeit brauchte, soll er gesagt haben: „Wing Chun ist begrenzt, weil es nur einen Fauststoß hat.“
Tatsächlich habe ich selbst allein in den drei waffenlosen Soloformen vier verschiedene fixe Fauststoßtechniken gelernt: Den Standard-Fauststoß in der 1. Form, zwei weitere Fauststöße in der 2. Form und den vierten in der 3. Form. Aber selbst wenn es nur einen einzigen in allen Soloformen gäbe, zeigt Bruce Lees Satz, dass er die nur für Anfänger geltende, also temporäre Beschränkung (Limitation), dass man nur Techniken, die in den Formen eingeführt sind, anwenden darf, als uneingeschränkte Beschränkung gelten ließ. Anders ausgedrückt, glaubte er offenbar, dass die Wing Chun-Formen alle Buchstaben und Wörter des Wing Chun schon fertig enthalten und dass es – innerhalb des Wing Chun – nicht erlaubt ist, neue Bewegungen spontan zu „erfinden“. Das steht aber im Gegensatz zu unserer Devise „Wenn es keine passende Technik gibt, erfinde Dir eine neue!“
Während dieses für die sog. „äußeren“ Stile gelten mag, werden in den „inneren“ Stilen, zu denen ich mein WT zähle, nicht fertige Techniken, sondern die ewigen Prinzipien des betreffenden Stiles als höchste Instanz angesehen. Für WT als einem inneren Stil muss gelten, dass die Formen nicht alle Buchstaben enthalten, sondern nur eine begrenzte Anzahl Wörter und kurze Phrasen als Beispiele und Übungsmaterial liefern, um die Prinzipien zu verstehen und anzuwenden; denn abstrakte Prinzipien lassen sich ohne Bewegungen ja nicht üben.
Es wäre in einem inneren Stil absolut legitim gewesen, wenn Bruce Lee, den ewigen Wing Chun-Prinzipien folgend, spontan eigene „Bewegungen des Augenblicks“ für diese eine unwiederbringliche, flüchtige Situation kreiert hätte; der Wing Chun-Stil als inneres System hätte nicht von ihm verlangt, dass er sich auf Standard-Fauststöße beschränkt, die in dieser spezifischen Situation (der Gegner wandte ihm im Kampf den Rücken zu) nicht wirksam sein konnten.
Es wäre nicht nötig gewesen, dass Bruce Lee nach diesem Kampf, um mehr Angriffe und Angriffswinkel zur Verfügung zu haben, neue festgelegte „Techniken“ erfand. Die Wing Chun-Prinzipien hätten ihm genug Spielraum und Freiheit geboten. Dass Bruce Lee sein Gewicht auf das vordere Bein verschob, dass er Schritttechniken aus dem Fechten vorzog, all das hätte ihm nicht das Recht genommen, es WingTsun (oder Wing Chun, die in den USA übliche Schreibweise) zu nennen. Selbst von einem seiner SiHings (dem leider zu früh verstorbenen Wong Shun Leung) wird gesagt, dass dieser, als ehemaliger Boxer, die Fußarbeit des Boxens präferierte.
An seinen Modifikationen, ja selbst an seinen eingreifenderen Veränderungen während der Jeet-Kune-Do-Phase ist nichts auszusetzen, selbst wenn er für sich, der er superschnell und feinfühlend war, auf taktil-kinästhetisches Training (ChiSao) verzichtete, weil er diese Fähigkeiten schon in hohem Maße besaß. Darüber hinaus konzentrierte sich Bruce Lee in seiner letzten Unterrichtsphase auf die Angreiferrolle, wodurch ChiSao, was zur Verteidigung und dem Konter-Kämpfer dient, für ihn an Bedeutung verlieren durfte. Aber auch mit dieser Einstellung hatte sich Bruce Lee nicht vom Grundprinzip des WingTsun entfernt, das im 2. Teil seines wichtigsten Prinzips sagt:
„Wenn der Weg frei ist, stoße vor.“

Ich erkenne einen roten Faden in Bruce Lees persönlicher Entwicklung als Kämpfer, der durch alle seine vier Transformations-Phasen zu verfolgen ist.
Er hätte sich genau so verhalten, genau so entwickeln können, ohne dass es deshalb nötig gewesen wäre, den Namen seines Stiles von Wing Chun in Jeet Kune Do zu verändern. Die Prinzipien des Wing Chun (WingTsun) hätten ihm keine Begrenzungen auferlegt, seine eigene Auffassung vom Wing Chun als einem dogmatischen (weil traditionellen) chinesischen Stil hat ihn gefesselt. Und vielleicht ist die Namensänderung als letzter Befreiungsakt zu werten, mit dem er sich selbst zur höchsten Instanz erklärte. Dabei wollte Bruce Lee nicht wirklich einen neuen Stil gründen, der dann ja wieder Begrenzungen haben muss.
„Wenn die Leute sagen, dass Jeet Kune Do sich vom diesem oder jenem Stil unterscheidet, dann wischt den Namen Jeet Kune Do einfach aus, denn das ist es, was es ist: nur ein Name. Macht nicht so viel Aufhebens davon!“
(If people say Jeet Kune Do is different from “this” or from “that”, then let the name of Jeet Kune Do be wiped out, for that is what it is, just a name. Please don’t fuss over it.)

Welch schlimmer Dienst wurde Bruce Lees Bemühungen um die stillose, ja wissenschaftliche Selbstverteidigung geleistet, als sein Jeet Kune Do von China offiziell zum Stil erklärt wurde. Zum Glück musste er das ebenso wenig erleben wie Jesus das Christentum als Staatsreligion und Konfuzius seine posthume Ernennung zum Gott.

Nachdem Bruce Lee 1973 starb, teilten sich seine Anhänger in zwei sich erbittert bekämpfende JKD-Lager:

•  die JKD-Traditionalisten
  
die Bruce Lees Beispiel folgend glauben, dass nur der das wahre Jeet Kune Do macht, der dieselben
   Bewegungen („Techniken“) praktiziert und lehrt, die Bruce Lee auch machte (z.B. Ted Wong).

•  die JKD-Konzeptionalisten
  
die für sich beanspruchen, dass sie jede Menge anderer Stile bzw. derer Techniken (philippinisches Kali,
   indonesisches Silat, Shootwrestling usw.) in ihr Repertoire aufnehmen können, solange diese nur von
   der Struktur (sic!) her kompatibel sind (z.B. Dan Inosanto). Außenstehende könnten den Eindruck
   bekommen, dass Jeet Kune Do philippinischen Ursprungs sei.

Die Traditionalisten versperren sich durch diese Haltung die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, eine Freiheit, die Bruce Lee für sich selbst stets beanspruchte.
Die Konzeptionalisten verwässern das Gelernte nach dem falschen Motto „Mehr ist mehr“, statt die Essenz zu erkennen und von dort, den Prinzipien folgend, weiterzuarbeiten.

Bruce Lee aber bleibt der „Pointer of the Way“ – der Mann, der den Weg weist!

Euer SiFu/SiGung

Keith R. Kernspecht

Auszug aus Prof. Kernspechts neuem Buch: „Kampflogik – Die Strategie der Nicht-Strategie – fragmentarisch dargestellt am WT (WingTsun) mit Querverweisen zum Jeet Kune Do, Tai Chi, Hsing-I, Pakua, Aikido, Judo, Ju-Jutsu, Schwertkampf, Escrima, Karate und Hapkido“