Editorial

Denken beim Kämpfen

Der nachfolgende Text setzt den Gedankenaustausch mit meinem Mentor Prof. Horst Tiwald zum im November-Editorial aufgegriffenen Thema fort. Er machte sich weitere Gedanken und schickte mir diese Antwort:

Hallo Herr Kernspecht,

Sie schreiben:

Die inzwischen Englisch sprechende Klosterfrau (Founder Ng Mui) fragte in die Twitter-Runde:
Meint Ihr, dass es in einer gefährlichen Situation besser ist, sich von einem menschlichen Wesen in ein Tier zu verwandeln, um das zu tun, was nötig ist, so dass man nicht durchs Denken gestört wird?

Damit trat sie eine Diskussion los, auf die dann die verschiedensten Antworten kamen. 

Z.B. von ihrer Meisterschülerin, Yim Ving Tsun, die modernen amerikanischen Kampfkunst-Psychologen vielleicht mehr traut als dem Chan-Buddhismus, den ihr Ng Mui vor 250 Jahren nahezubringen versucht hatte.
Yim Ving Tsun antwortete in perfektem Englisch:

Ja! Tiere behindern ihre Reaktionen nicht mit unnötigen innerlichen Dialogen. Nur Menschen sind so intelligent. Oder so dumm?

Da haben doch beide recht, wenn man berücksichtigt, was die beiden mit „denken“ meinen, was in der Übersetzung offensichtlich schlecht rüber kommt.

Ng Mui stellt eine Frage.
Diese ist sinnvoll und kann daher als Frage gar nicht falsch sein.
Die Antwort ist dann mit ja’ zu beantworten, wenn man mit dem Wort „denken“ das innere Verfolgen von Gedanken in der Vorstellung meint.

Hier ist es nämlich wirklich besser, angesichts der Gefahr, keinen Gedanken zu folgen und nicht in die Vorstellung abzudriften.
Sonst steht man dann zwar fest in der Phantasie, in der Realität aber eben daneben.
So verstanden ist es dann allerdings besser, auf die menschliche Fähigkeit, angesichts der Praxis auch, bzw. gerade dort zu denken, zu verzichten, weil man sich dieses Denken ja noch gar nicht erworben hat.

Die Antwort auf die Frage von Ng Mui ist aber dann ‚nein’, wenn man bereits Zugriff auf die menschliche Fähigkeit hat, angesichts der Gefahr auch und gerade hier intensiv denken zu können, was ja im Zen gemeint ist, wo man im Satori in die „Welt der Unterscheidungen“ eintritt, die man dann geistesgegenwärtig denkend aufnimmt, um das Tun zu optimieren.

Die Antwort von Yim Ving Tsun ist auf alle Fälle richtig!
Sie bestimmt ja, was ihrer Ansicht nach Ng Mui unter „denken“ versteht. Sie wählt die erste Variante und sagt ja deutlich, dass „unnötige innere Dialoge“, also das Verfolgen von Gedanken in der Vorstellung, gemeint sei.
Bei diesem Verständnis von Denken ist es daher richtig zu sagen, dass nur Menschen die Fähigkeit besitzen, nicht nur die gedanklichen Produkte ihres eigenen Denkens, sondern auch die gedanklich transportierte Erfahrung anderer Menschen in ihrer erinnernden Vorstellung zu verfolgen und dadurch in vorgestellte Gedanken abzudriften, statt mit dem Denken bei der Sache zu bleiben.
Dies zu tun, hält der Mensch für intelligent, was ja in entspannten Situationen nicht ganz von der Hand zu weisen ist, aber die Dummheit folgt auf dem Fuß!

Das menschliche Wesen hat der Möglichkeit nach die Chance zu denken. Im Kindsein ist einem dieses – die Praxis unmittelbar aufnehmende – Denken als Kredit geschenkt.
Mit diesem Kredit muss man aber, mit Hilfe der Erwachsenen, sinnvoll umgehen, um die kindliche Chance zu denken auch erwachsene Wirklichkeit werden zu lassen.

Wird diese Chance bzw. der Kredit verspielt, dann ist es vermutlich theoretisch besser, angesichts der Gefahr das Denken gar nicht zu versuchen und Gedanken abzuweisen.

In der Praxis kann es aber durchaus sein, dass angesichts der Gefahr die Augen auf gehen (wie beim Satori) und das Denken freie Bahn bekommt, wo man eben „über dem Abgrund die Hände loslässt“, d.h. von den vorgestellten Gedanken loslässt und mit selbstständigem Denken der Wirklichkeit unmittelbar begegnet.

So gibt es auch zwei verschiedene meditative Methoden, den Durchbruch zu erlangen.
Die eine besteht darin, durch „Sammlung“ zu lernen, alle Phantasien abzuweisen, die andere darin, gedanklich zu Ende zu denken, wie es mit dem Koan versucht wird.
So scheint im ersten Fall der unmittelbare Wirklichkeitsbezug allmählich zu kommen, im zweiten Fall dagegen der Durchbruch plötzlich zu gelingen.

Liebe Grüße
Horst Tiwald


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Eine besinnliche Adventszeit mit viel Zeit zum Lesen!
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht