Editorial

Der Gewinner – Teil 2

Manchem Leser mag der Gewinner meines letzten Editorials nicht wie einer erschienen sein. Dem Harten wird es nicht gefallen, dass er ohne zuzuschlagen abgefahren ist. Hat er vielleicht gar gekniffen? Der Weise wird gar nicht nachempfinden können, dass R. dem Taxifahrer überhaupt hinterher gefahren ist ...

Aber ich weiß, dass viele Katastrophen, die mit Mord und Totschlag enden, sich so aufbauen: Durch viele nacheinander ablaufende Störungen und Beeinträchtigungen, falsche Ernährung und aggressiv machende Musik ist der Betreffende so vor-gereizt, dass er sich immer mehr in seine Wut hineinsteigert. Dass R. die Kurve dennoch bekommen hat, ist höchster Anerkennung wert. Er hat sich selbst de-eskaliert, indem er Abstand von sich gewann und sich wie ein über den Dingen stehender Beobachter zusah. Das war so, als ob jemand die Vorhänge plötzlich aufzieht und das Licht der Sonne den Schlafenden weckt und die Albträume schlagartig beendet. R. war tatsächlich ein Gewinner, ebenso wie der Taxifahrer, dem er vielleicht Leben und Gesundheit gerettet hat.

Wir haben wenig Einfluss darauf, was für Emotionen uns überkommen, aber wir müssen so hellhörig sein, dass wir erkennen, wenn wir gereizt sind. Das gehört zur Selbsterkenntnis. Nur wer die Vor-Gereiztheit erkennt, kann sich selbst beherrschen und sich selbst de-eskalieren, das heißt von der Wut wieder runterbringen. Insofern hätte R. bei mehr Achtsamkeit seine emotionale Situation früher erkennen können und wäre gar nicht erst wutschäumend hinter dem armen Taxifahrer hinterhergefahren, der wahrscheinlich einen ähnlich stressigen Tagesanfang hatte oder ein völlig frustrierendes Leben führt. Raum zum Dazulernen gibt es also immer. Arbeiten wir an uns, sonst erteilt uns das Leben Nachhilfeunterricht! Und wo wir gerade von Unterricht sprechen, wenn das Leben unser Lehrer sein soll und wenn wir immer wiedergeboren werden, bis wir genug gelernt haben (diese Idee der Wiedergeburten soll übrigens mal Teil des frühen esoterischen Christentums gewesen sein), dann dürfen wir dem anderen, egal was er uns antut, nicht böse sein, denn er hat nicht wirklich schuld. Er ist Teil eines größeren Planes, dessen Gesetze er nicht kennt. Er ist nur Überbringer einer Botschaft an uns, die uns auf unsere „Fehler“ aufmerksam machen soll. Ob es sich wirklich so verhält, lassen wir hier besser außer acht. Es reicht, wenn Sie sich so sehr mit dem Gedanken anfreunden, dass es Sie von Ihrer Wut auf den Typ herunterbringt. Damit helfen Sie nicht nur ihm, sondern vor allem sich „selbst“.

Wie oft lesen wir verständnislos von sog. „Amokläufern“, die ihre ganze Familie mit der Axt auslöschen, weil ihrer Frau das Wort „Schlappschwanz“ rausgerutscht ist oder weil das Baby nicht aufhört zu schreien. Wenn wir modernen Hirnforschern glauben, die behaupten, dass der „Automat Mensch“ Entscheidungen gar nicht bewusst trifft, sondern gerade mal ein Vetorecht ausüben kann und auch dafür nur 0,2 Sekunden Zeit hat, wird uns schon verständlicher, weshalb bestimmte impulsive oder auch „primitive“ Menschen ihrem Mandelkern folgend die Chance der 0,2 Sekunden gar nicht ausnutzen können. Damit will ich solche Menschen jetzt keinesfalls entschuldigen, aber den geneigten Leser auf die Gefahren aufmerksam machen, die auf den Unbewussten, im Halbschlaf durchs Leben Irrenden lauern. Auch die Ernährung, die Musik, die Lebensumstände spielen eine wichtige Rolle.

Lauschen Sie in sich herein. Finden Sie heraus, was gut für Sie und ihre seelische Balance ist. Da jede Konfliktsituation anders ist: das Gegenüber ist anders, das Milieu ist anders, die Sprache ist anders usw., kann ich unmöglich für jede Situation ein maßgeschneidertes Rezept erstellen, wie Sie sich im Vor­kampf verhalten sollen. Was hier gebraucht wird, das ist eine Art Universalstrategie wie die vier Kampfprinzipien des WT oder wie die Goldene Regel des Konfuzius. Etwas, was immer unter allen Bedingungen greift. Tatsächlich bin ich glücklich, Ihnen dieses nach langer Überlegung und viel Experimentieren und Forschen anbieten zu können: eine Kampf- oder besser Kampfvermeidungsstrategie, die, wie sollte es anders sein, den vier technischen WT-Prinzipien entspricht. Mehr darüber in meinem Buch „Selbst-Verteidigung oder inneres WingTsun“, an dem ich nun schon seit einigen Jahren arbeite und aus dem auch dieses Editorial entnommen ist.

Livorno, Mai 2003

Euer Si-Fu/Si-Gung

Keith R. Kernspecht
10. Meistergrad WingTsun
Gründer, Leiter und Cheftrainer der EWTO
 

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.