WingTsun

Die Bauern und die Glorreichen • ein Salut den Freizeit-WT-lern – Teil 1

Im Filmklassiker „Die glorreichen Sieben“ gibt es eine Szene, in der Bernardo, einer der sieben Helden, der von Charles Bronson gespielt wird, einigen Bauernjungen gehörig die Leviten liest:

Die Jungs verehren ihren Helden Bernardo und wünschen, ihre Väter wären doch genauso mutig wie er. Er versohlt ihnen daraufhin den Hintern und erklärt, dass es viel größeren Mut erfordere, wie ihre Väter jeden Morgen in der Früh aufzustehen, die Verantwortung für das Wohl ihrer Familie zu übernehmen und sich ohne Klagen den Rücken krumm zu arbeiten.

So manchem von uns WT-Schülergraden geht es, vermute ich, ähnlich wie diesen Vätern. Wir kommen unseren persönlichen, beruflichen und familiären Interessen und Verpflichtungen nach und in unserem Leben gehören gewaltsame Auseinandersetzungen nicht gerade zum Tagesgeschäft – ohne den Experten damit einen Vorwurf machen zu wollen. Unser so genannter Interessenschwerpunkt liegt einfach woanders.

Ich heiße Mathias, 10. SG, bin Jahrgang 1971, Vater zweier Kinder und Privat Coach. Neben meiner Familie sind Coaching und Schreiben meine Interessenschwerpunkte. Ich schreibe diesen Artikel, um mich selbst an Einsichten zu erinnern, die ich persönlich häufig vergesse, und um den einen oder anderen von euch aufzumuntern, wenn es „mal nicht so mit dem WT-Training klappt“, wie ihr es gern hättet.
 

Erwartungen

Warum habe ich überhaupt mit WT angefangen? Was habe ich erwartet?

Ich wollte der sein, der, wenn es brenzlig wird, kühlen Kopf bewahrt, sich effizient verteidigt und den Konflikt schnell beendet. So ungefähr wie Revolverheld Chris – im Film gespielt von Yul Brunner – oder eben wie jedes andere fiktive oder reale Vorbild.
Aber das würde bedeuten, vielleicht jemand ganz anderes zu werden. Ich werde aber nicht einfach jemand anderes nur durch eine Urkunde für eine bestandene WT-Prüfung. Will ich das überhaupt?

Wie sollte sich auch das Selbstgefühl eines routinierten Kämpfers einstellen, wenn ich nicht fünf bis sieben Tage die Woche ans Kämpfen denke, nicht mein Geld damit verdiene und außerdem keinen besonderen Spaß daran habe, mich mit anderen im Kampf zu messen.
 

Frustration

Aus der Diskrepanz zwischen meinen Erwartungen und dem, was ich erreicht hatte, entstand Frustration.
Um in dieser Gleichung die Frustration zu verringern, musste ich entweder meine Erwartungen anpassen oder mehr erreichen. Am besten beides. Aber wie?

Was kann ich als „Freizeit-WT-ler“ –  mit meinem Vollzeit-IT-Job, meiner selbstständigen Tätigkeit als Coach, zwei kleinen Kindern und weiteren Interessen neben WT – erwarten? Meine Chancen im Ernstfall zu erhöhen. Jeder einzelne Prozentpunkt an Chancen kann den Unterschied zwischen einem blauen Auge, Krankenhaus oder Schlimmeren ausmachen. Ich kann nicht erwarten, dass es in anderen Kampfkünsten besser oder leichter ist, sie zu beherrschen. Manche anderen Kampfstile setzen eine gewisse Körperkraft voraus oder werden dadurch begünstigt. Wenn ich diese nicht habe, reduzieren sich meine Chancen schon von vornherein. WingTsun hingegen wurde, folgt man der Legende, von einer Shaolin-Nonne für ein junges Mädchen entwickelt.
 

Gründe für Frustration

Ich befragte einige Schüler- und Technikergrade und Sifu Heiko Olear der WT-Schule Wiesbaden, aber auch andere Schüler über soziale Medien, was beim WT-Training zu Frustration führt. In den Gesprächen und Antwortschreiben fielen mir einige genannte Gründe besonders auf. Bestimmt gibt es noch etliche mehr. Doch die folgenden finde ich sehr interessant, da sie sich mit meinen persönlichen Erfahrungen decken:

Unsicherheit

Am häufigsten wurde Unsicherheit genannt. Zum einen ist es die Unsicherheit durch die für Anfänger verwirrende Vielfalt von Techniken und Anwendungen. Es gibt keine Allround-Technik.
Wenn ich mir einmal rein theoretisch einen Kampf als eine Art Kommunikationsform vorstelle, so geht es mir darum, das grundlegende System, sozusagen die Charakteristik der „Sprache“ WingTsun, zu verinnerlichen.

Zum anderen ist es die Unsicherheit – im Sinne von Angst – bei Prüfungen durchzufallen, aber auch die Angst vor dem Durchkommen und den damit folgenden höheren Anforderungen.
Um zu wachsen und meine Fähigkeiten zu entwickeln, muss ich aber meine Komfortzone verlassen und dieses Unbehagen in Kauf nehmen. Wenn dieses Unbehagen fehlte, wenn ich nur das Programm der unteren Schülergrade trainierte, dann würde ich mich in falscher Sicherheit wiegen, dass ich mein Repertoire beherrsche.

Verwirrung

Warum lerne ich erst eine geradlinige effektive Angriffstechnik, wenn ich dann zu anspruchsvolleren Verteidigungsstrategien wechseln soll?

Nach meinem Verständnis beziehen sich die Inhalte der Schülergrade 1 bis 4, BlitzDefence und die vier Grundreflexe Bong-, Tan-, Djam- und KaoSao, auf ganz bestimmte Situationen, mit denen ich am wahrscheinlichsten konfrontiert werden kann. Die Anfängerübungen gehen von einer bestimmten Ausgangsposition zum Gegner, einer bestimmten Distanz und der momentanen Fähigkeit des Schülers, darauf zu reagieren, aus. Einfachheit ist für mich als Anfänger in ungewohnten Stresssituationen besser, da ich nur wenige Techniken bzw. Entscheidungen abrufen muss.
Ab dem 4., besonders aber ab dem 7. Schülergrad, erweitern sich die Möglichkeiten der Ausgangspositionen. Nun muss ich meine Fähigkeiten erweitern und einen Schritt weiter denken: Was ist, wenn ich meinen Blitz nicht erfolgreich durchgebracht habe und es zu einem Gerangel auf kurzer Distanz kommt? Diese kurze Distanz ist ungewohnt und unangenehm für mich, da der Kontakt innerhalb der so genannten persönlichen Sicherheitszone stattfindet. Dies allein produziert schon genug Stress und Adrenalin, um meine Chancen im Kampf zu verringern. Um sie nun wieder zu erhöhen, kann ich versuchen, mich mit ChiSao-Partnerformen an die unangenehme Nähe zu gewöhnen. Wenn ich mich an die kurze Distanz gewöhnt habe, so denke ich, kann ich auf größerer Distanz souveräner handeln. Ein zusätzlicher Aspekt ab dem 7. Schülergradprogramm ist der Wechsel vom präventiven Angreifer zu der mir eher gelegenen Rolle des Verteidigers. Als Verteidiger fühle ich mich weniger unter Druck, die Situation als tatsächliche Gefahr interpretieren zu müssen, den richtigen Moment des Präventivschlags nicht zu verpassen oder am Ende als der eigentliche Übeltäter dazustehen. Ich bin im Recht und das gibt mir mehr Sicherheit.

Zweifel

Was ist, wenn der andere besser ist? Ich weiß nicht, ob ich diesen Zweifel jemals loswerde. Aber wenn ich manchmal das Gefühl habe, mein ganzes Training sei am Ende ja doch sinnlos, weil so viele so viel besser sind, beruhigt mich ein Gedanke:
Der erste Schritt, unbeschadet einer gewaltsamen Konfrontation zu entgehen, ist, gar nicht erst hineinzugeraten. Wenn ich mir die vielen höheren Grade bewusst mache, die so viel besser sind, als ich, sollte ich dadurch genug Respekt – nicht Angst – lernen, um nicht blind in jedes Fettnäpfchen zu stolpern.

Letztendlich trage ich alles in mir selbst: Erwarte ich überall Aggression, werde ich mich auf Kampf einstellen und mich entsprechend – bewusst oder unbewusst – bewegen und verhalten. Andere reagieren nun – bewusst oder unbewusst – auf mein Verhalten, fühlen sich durch mich bedroht oder herausgefordert und werden sich dadurch ihrerseits eher aggressiv verhalten.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Im Fall von Hochsensitivität (HSP), wie bei mir und geschätzten 15% der Menschheit, kann es zu einer Reizüberflutung kommen. Dann sehe ich, wenn Sifu Heiko mir etwas Neues erklärt, buchstäblich vor lauter Armen die Technik beim Training der ChiSao-Partnerformen nicht mehr. Da prasseln das Fühlen der Arme, die gesprochene Erläuterung, die visuelle Wahrnehmung anderer Schüler, die uns zuschauen, und die neue Technik selbst auf mich ein, so dass ich scheinbar nichts aufnehmen kann.
 

Beim nächsten Mal möchte ich euch meine Lösungsstrategie vorstellen, mit der ich es für mich geschafft habe, der Frustfalle zu entgehen.


Text: Mathias Weller
Fotos: fotolia © JackF/EWTO-Schule Wiesbaden-Erbenbach