Editorial

Die einzige Freiheit des Menschen

Die einzige Freiheit des Menschen ist seine Freiheit, seine Eindrücke beliebig zu behandeln. Den einen anzunehmen, den anderen abzulehnen. Die ganze menschliche Geschichte wird davon geprägt. Hätte Paris auf seinen Eindruck auf Helena anders reagiert, so wäre der trojanische Krieg nicht ausgebrochen und eine große Stadt und ihr Volk wären nicht zerstört worden.

Hier sehen wir, wie viel von Reaktionen auf Eindrücke abhängen kann. Daher ist Wachsamkeit eine lebensnotwendige Notwendigkeit, denn wer nicht wachsam ist, der wird bald überwältigt. Der Steuermann braucht nur einen Augenblick zu schlafen, und schon ist das Schiff verloren.

Epiktet

Nichts geht von außen in den Menschen hinein, was ihn zu verunreinigen vermag, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, was den Menschen verunreinigt ...
... Denn von innen her, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken hervor: Unzucht, Diebstahl, Mordtaten, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, Arglist, Ausschweifung, Scheelsucht, Lästerung, Hochmut, Unverstand.

Jesus in: Markus 7,15-23

 

Mache Dich frei von den Eindrücken des Lebens!

Wir müssen uns immer wieder darüber klar werden, dass das äußere Leben nur in gefilterter und vorzensierter und selektierter Auswahl über unsere Sinne in uns einfällt. Von Millionen bit/Sek Eindrücken werden uns dabei nur 6 bis 16 bit/Sek wirklich bewusst, die wir verarbeiten. Du musst Dir das so vorstellen, als ob jemand vor Deinem Hauseingang steht und Eintritt begehrt, es kann sich über einen angenehmen Gast oder über einen unangenehmen, bösen Besucher handeln. Du darfst nicht alles ungeprüft zu Dir reinlassen, genau so wenig wie Du jedes E-Mail ungeprüft öffnest und jedes Programm blauäugig herunterladest, denn es könnte üble Viren enthalten, die Dir alles zerstören.
Nicht alles an sich herankommen zu lassen, sondern auszuwählen heißt Eindrücke bewusst aufzunehmen. Dies ist der Anfang zu einem bewussten, selbstverantwortlichen Leben. Der Durchschnittsmensch reagiert und denkt mechanisch, das heißt unbewusst, er lässt alle Eindrücke ungeprüft zu sich herein, übernimmt sie und denkt von ihnen weiter, indem er sich mit ihnen identifiziert. So wird er in der Gewalt des Treibriemens äußerer Umstände zum Spielball des Lebens, zu einer Funktion der täglichen Lebens- und Sachzwänge, zum Sklaven jeder negativen Emotion.
Er mag Politiker, General, Industriekapitän oder Universitätslehrer sein, aber er ist dennoch nur eine menschliche Maschine, die unter der Illusion steht, ein bewusster und frei entscheidender Mensch zu sein. Sei deshalb misstrauisch gegenüber allen Eindrücken, die von außen hereinwollen, akzeptiere sie nicht gutgläubig, damit Du nicht von jedem Virus angesteckt wirst, denn: „Der Gedanke legt den Grund für die Tat." (Moltke).

Die guten Gedanken annehmen und die schlechten abwehren

Das Bild vom perfekten Verstand (der über seine Gedanken herrscht) wird von der Person des Centurionen des Evangeliums gut dargestellt. In der Geschichte über ihn wird die moralische Kraft die die Möglichkeit gibt, nicht von jedem hereinkommenden Gedanken fortgetragen zu werden, sondern statt dessen nach eigenem Urteil die guten Gedanken anzunehmen und die widrigen ohne Schwierigkeiten fortzutreiben mit folgenden Worten beschrieben, wenn man sie bildlich auffasst:

„Denn ich bin ein Mann mit Autorität und habe Soldaten unter mir. Sage ich zu einem GEHE, so geht er, und sage ich zu einem anderen KOMME, so kommt er, und sage ich zu meinem Diener TUE DIES, so tut er dies."

J. Cassian, Konzil von Nizäa, 360 - 435 n.Chr.

„Unser täglich Brot gib uns heute", heißt es in der Bibel. Damit ist nur im bildlichen Sinne wirkliches Brot gemeint. In Wirklichkeit geht es um Eindrücke, um Ideen.
Der Mensch lebt von Nahrung, wobei wir mit G. drei Sorten verschieden hoch entwickelter Nahrung unterscheiden:

1. normale Nahrung wie Kartoffeln oder Beefsteak
2. Sauerstoff
3. Eindrücke

Während man ohne normale Nahrung noch einige Wochen überleben kann, hält man es ohne Luft zum Atmen nur wenige Minuten aus. Ohne Eindrücke aber kann der Mensch keinen Augenblick „überleben".
Ein Anruf seines verlorenen Sohnes kann das Leben eines todkranken Vaters sensationell verändern und bewirken wozu die teuersten Medikamente und alle lebensverlängernden Apparaturen in seinem Krankenzimmer nicht in der Lage waren. Ein SMS des Geliebten kann einer Verzweifelten neuen Lebensmut geben. Aber wie wichtig ist es, dass man sich von den richtigen Eindrücken nährt und die falschen verschmäht wie die Kuh auf der Wiese giftige Gräser. Wenn wir uns aber einmal bewusst machen, worin die täglichen Eindrücke des Durchnittsmenschen bestehen, kommen wir ins Grübeln. Öffnen wir die Boulevard-Zeitung oder schalten wir eine Talk-Show an, werden wir mit einer Flut negativer, perverser und pathologischer Informationen überschüttet. Die ganze Welt scheint nur aus Sex und Gewalt zu bestehen. Dieses kranke und krankmachende Material drängt ständig in Dich ein, denn Dein Anti-Virus-System ist nicht installiert. Lohnschreibende Professoren einer mächtigen, degenerierten, gewissenlosen Unterhaltungsindustrie wollen uns glauben machen, all dies hätte keine Wirkung auf uns und die Jugend!

Werde zum selektierenden Analphabeten!

Der unbewusste Mensch, der Mensch-Automat, hat keine Wahl, er muss Eindrücke jeder Art aufnehmen. Der wache Mensch aber, der Mensch, der öfter wach bleiben kann, hat die Möglichkeit, Eindrücke zu selektieren. Während ein großer Teil der Menschheit immer noch zu ihrem Leidwesen Analphabeten sind, leiden wir hier darunter, dass wir unabsichtliche Leser sind. Der menschliche Automat muss alles, was ihm vor die Linse kommt, lesen und geistig aufnehmen. Durch diese Gewohnheit werden wir zu Sklaven jeder in schwarz auf weiß geschriebenen Idee. Deshalb müssen wir uns von diesem mechanischen ungeprüften Lesen befreien, indem wir den Lernprozess rückgängig machen, wir müssen mit Absicht und Vorsatz zu selektierenden Analphabeten werden. Fällt unser Blick auf etwas, was wir nicht in uns aufnehmen wollen, dann müssen wir auf einen Schlag zu Menschen werden, die des Lesens nicht mächtig sind. Lasse keine Eindrücke unautorisiert in Dich eindringen, denn sie könnten auf fruchtbaren Boden fallen und wie ein Virus unbewusste Prozesse in Dir einleiten.

Transformation von Eindrücken

Im taoistischen WingTsun geht es grundsätzlich um Verwandeln, Ändern, Umformen, Anpassen. End-gültig ist das Ziel die Transformation des ganzen Menschen zu einem neuen, besseren Menschen, der seine latenten Anlagen erkennt, aktiviert und ausprägt.
Alles geschieht durch Transformation: Bong-Sao transformiert sich zu Tan-Sao, das Feuer in Deinem Feuerzeug entsteht durch Transformation, das Korn wächst aufgrund von Transformation, Transformation macht aus der Raupe den Schmetterling, die Idee in Deinem Kopf transformiert sich in einen gesprochenen Satz. Das gegessene Beefsteak wird in Deinem Magen zu Höherem transformiert, Luft wird in Deinen Lungen zu Höherem transformiert. Alles im Menschen wird irgendwie durch ein Organ zu Höherem transformiert. Aber mit einer Ausnahme: Eindrücke, die in unseren Verstand eindringen, werden nicht in entsprechender Weise in etwas Feineres verwandelt.
Ohne solch ein „Organ" können wir die Eindrücke des Lebens, die unangenehmen Ereignisse des täglichen Lebenskampfes und die sog. „Schicksals"-Schläge nicht richtig und vollständig verdauen.
Die Natur hat uns so etwas nicht vollentwickelt mitgeliefert, deshalb müssen wir selbst so ein Organ in uns heranbilden, das die Eindrücke, die täglich ungehindert durch unsere Eingangspforten (Augen und Ohren) hineinkommen, verwandelt, damit wir sie verdauen können. Weil das entsprechend ausgebildete Organ (oder nennen wir es Katalysator) nicht haben, leiden wir Menschen, so wie wir beschaffen sind, an einer chronischen psychischen Mangelernährung. Wie man diesen Katalysator heranbildet? Durch eine besondere Qualität der Aufmerksamkeit, durch Nicht-Identifizieren, d.h. durch „sich nicht Vergessen", manche Leute nennen es Meditation, ein Wort, das ich wegen seiner Abgegriffenheit gerne vermeide.

 

Keith R. Kernspecht

 

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.