ChiKung

Gleichgewicht kann man nicht haben

Man stelle sich eine starre Stange vor. Wie schwierig ist es, sie auf eine Spitze zu stellen, so dass sie nicht umkippt – konzentriert sich doch die Übertragung des Gewichts auf einen zur Länge vergleichsweise kleinen Punkt! Wir haben zwar zwei Beine, doch sind unsere schweren Körperteile ziemlich weit oben, was ein festes Stehen ebenfalls nicht ganz leicht macht. Unsere anatomisch eher instabile Struktur bedingt ständiges Ausbalancieren.

Es leuchtet deshalb ein, dass es eine Hauptaufgabe der Muskulatur ist, den Fall zu verhindern. Das heißt, der Anteil an haltender Muskulatur (tonische Muskulatur) ist relativ hoch. Erst in zweiter Linie kommt die Bewegung ins Spiel, die nur dann effizient möglich ist, wenn die Haltung gesichert ist.

Diese Tatsache, kombiniert mit der Angst vor dem Fall, führt oft dazu, dass die Haltemuskulatur zu viel arbeitet, so dass wir steif werden. Steifheit nimmt uns aber die Möglichkeit, schnell zu reagieren. Steifheit ist gerade in der Gefahr eines Sturzes kontraproduktiv – man stelle sich die Reaktion auf dem Eisfeld vor, wo eine starre Körperposition den Sturz geradezu provoziert, ihn gefährlich macht. Flexible Reaktionsmöglichkeiten sind die effizienteste Art ist, sich vor Stürzen bzw. vor Verletzungen zu schützen.

Gleichgewicht ist ein dynamischer Prozess
Da wir uns von der Stange unterscheiden, zwei Beine haben, uns fortbewegen wollen, muss das Gleichgewicht mit jeder Bewegung neu eingestellt, ausbalanciert werden. Gleichgewicht ist somit etwas dynamisches, das sich – im wahrsten Sinne des Wortes – laufend anpasst. Gleichgewicht kann man nicht haben, sondern man kann es nur immer wieder neu finden.

Haltung kann kontraproduktiv sein zum Gleichgewicht
Wenn die aufrechte Haltung durch immer gleiche, steife Art erreicht werden will, resultiert daraus eine trügerische Art der Stabilität. Sobald Gleichgewicht nicht mehr immer neu hergestellt wird, friert die Grundhaltung ein, Bewegung wird beschwerlich. Die Freude an der Bewegung geht verloren. Wir fühlen uns schwer, die Steifigkeit wird in der Muskulatur schmerzhaft bemerkbar.

Haltungsschulungen aller Art, die Aufforderungen Erwachsener an ein Kind, Haltung zu bewahren, führen dazu zu denken, es gäbe nur eine richtige Haltung, die es zu finden gälte. Auch Verletzungen, die Schmerzen und dadurch eine Schonhaltung hervorrufen, können zu einer versteiften Haltung führen. So konditioniert, ist es später eine Herausforderung, das flexible Gleichgewicht wieder zu erlernen.
Gerade im WingTsun, wo Gleichgewicht und Beweglichkeit so wichtig sind, kann der Lehrer dem Schüler viel helfen, in dem er nicht darauf beharrt, dem Schüler eine „korrekte“ Haltung abzuverlangen – vor allem nicht in den Schülerprogrammen, da sie der Schüler in diesem Stadium fast nur durch Starrheit zu erreichen sucht, weil so vieles neu ist.

Die Haltung verbessert sich durch feineres Körpergefühl
Haltung ist ein neuromuskulärer Vorgang, in den am besten nicht willentlich eingegriffen werden sollte. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, in jedem Moment die passende Haltung bewusst auszuführen.

Wir erreichen dynamisches Gleichgewicht am ehesten, indem wir uns möglichst vielfältig bewegen, unser Körpergefühl verbessern, unsere Sinne schulen, unsere Nervenzellen zur Eigenwahrnehmung des Körpers beständig neu reizen, um so neue und vertiefte Verknüpfungen im Nervensystem schaffen.

Unser Gleichgewichtsorgan, der Vestibularapparat, befindet sich im Innenohr. Doch auch die Augen und die Rezeptoren an den Fußsohlen tragen viel zum Gleichgewicht bei. Das lässt sich einfach überprüfen, daurch dass wir uns auf ein Bein stellen und die Augen schließen. Blenden wir zudem noch die Wahrnehmung der Füße aus, indem wir uns beispielsweise mit intensivem Denken ablenken, werden wir auch mit offenen Augen relativ schnell wackelig.

Im WingTsun-ChiKung wird das Körpergefühl mit sensomotorischen Übungen geschult – was unsere Fähigkeit erhöht, das dynamische Gleichgewicht auch dann zu behalten, wenn uns im WingTsun-Training der angreifende Partner aktiv darin stört!

Gleichgewicht ist nicht nur körperlich
Am meisten wird flexibles Gleichgewicht indes von unserm Denken gefordert. Bewegt es sich in eingefahrenen Bahnen, macht es uns im Leben und im Bewegen unflexibel und hindert unsere vielfältigen Möglichkeiten.
 
Solltest du glauben zu wissen, wie eine Bewegung (oder die Handlung in einer Situation) sein sollte, probiere einfach auch noch andere Möglichkeiten aus. Nur so kannst du wirklich wissen, welche für dich in diesem Moment die Beste ist!

Text: Regula Schembri

Fotos: DaiSifu G. Schembri/hm