Editorial

Großmeister Keith R. Kernspecht im Gespräch mit dem Journalisten Xaver J. Hirschmann

Ein Interview

XJH: Wie wollen Sie angesprochen werden? „Großmeister“, „Dai-Sifu“, „Professor“, „Dr. Kernspecht“?

Kernspecht: Wenn Sie mein Schüler wären, dann wäre die Anrede „Si-Fu“ in Verbindung mit dem vertraulichen „Du“ angebracht und Sie würden damit ausdrücken, dass Sie von mir lernen wollen und mich als Ihren Lehrer anerkennen.
Wenn Sie nicht mein WT-Schüler sind oder nur ein Lehrgangsteilnehmer, der WT einmal ausprobieren will, dann reicht „Herr Kernspecht“ völlig aus. Ob Sie mir noch einen Titel dazugeben oder nicht, ändert nichts an mir, denn ich bleibe derselbe Mensch mit denselben Schwächen und Stärken.

XJH: Heißt das, dass Titel keine Bedeutung haben?

Kernspecht: Titel haben ihre Bedeutung und Funktion, sonst gäbe es sie nicht. Sie können eine Qualifikation oder Anerkennung von Leistungen ausdrücken oder Statussymbole darstellen.
Der sterbliche Mensch braucht sie zur „horizontalen“ Erweiterung seines Ichs, um sich am trügerischen Gefühl zu berauschen, dass er wichtig und etwas Besonderes sei. Dabei bin ich nicht wichtiger oder etwas Besseres als irgendeiner meiner Schüler und sollte mehr an meiner „vertikalen“ (spirituellen) Entwicklung bedacht sein.
Wenn ich dem Schüler eine Graduierungsurkunde gebe, verbeuge ich mich entgegen der traditionellen Regel auch vor dem Schüler, in dem ich den potentiellen zukünftigen Meistern Ehre erweise.

XJH: Können Sie uns das näher erklären?

Kernspecht: Gerne. Ich habe die „Rolle“ des WingTsun-Lehrers übernommen und die des Leiters des größten professionellen Selbstverteidigungs-Verbandes der Welt. Diese Rolle fülle ich aus und „spiele“ sie mit dem nötigen Ernst, mit Verantwortungs- und Pflichtgefühl. Ich will diesen von mir aus dem Nichts gegründeten Verband beschützen und erhalten, weil dies die Rolle meines gegenwärtigen Lebens ist. Meine Schüler und mein Team von Lehrern, Meistern und Nationaltrainern haben sich entschlossen, ihre Rolle mit ähnlichem inneren Engagement zu spielen, weil sie wie ich wissen, dass sie eine Lehre verbreiten helfen, die ihnen und den zu ihnen kommenden Menschen eine große Hilfe – und nicht nur bei rein körperlichen, sondern auch bei psychischen – Problemen sein kann.
Ich habe vor meinen Schülern, auch vor Anfängern, nicht weniger Respekt als sie vor mir, einzig auf dem Gebiet des WT sehe ich mich als der Weisungsgebende an. Wobei für mich selbst die letzte Instanz, was WingTsun-Technik anbelangt, ohne jede Frage mein einziger Si-Fu, Great Grandmaster Leung Ting, darstellt, dessen Können und Urteil ich mich beuge.

XJH: Sie haben von Ihrem Si-Fu, Grossmeister Leung Ting, den 10. Grad im WingTsun (WT) erhalten. Viele hatten erwartet, dass Sie spätestens nach der Verleihung dieser höchsten WingTsun-Graduierung ihrem Si-Fu den Rücken kehren und sich selbständig machen.

Kernspecht: Ich weiß, dass viele an meiner Stelle so gehandelt hätten, und die meisten hätten wohl nicht bis zum 10. Meistergrad damit gewartet. Aber diese Leute haben mich nie verstanden. Ich vertrete nicht mich und ich bin (schon lange) nicht (mehr) auf einem Ego-Trip. WingTsun, diese geniale Lehre, ist nicht mein Eigentum, ich habe sie bisher nur gefördert, gepflegt, verwaltet und (gut) von den Früchten gelebt. Diese Lehre ist das Geburtsrecht aller Menschen, die sich darum bemühen, (mehr) Bewusstsein oder Bewusstheit zu erlangen. Ich habe nicht das Recht, diese Menschen von der lebenden Quelle dieser Lehre abzuschneiden, die für mich mein eigener Si-Fu ist. Deshalb gebe ich auch jedem meiner fortgeschrittenen Mitglieder ab ca. 9.SG die Möglichkeit, die ich selbst hatte, nämlich wie ein Privatschüler von meinem Meister auf dessen privaten Tutorials zu lernen.

XJH: Manche verstanden Ihre eigene Schöpfung, Ihren Stil „BlitzDefence“, als den Beweis, dass Sie sich unter eigenem Namen profilieren und vom klassischen WingTsun trennen wollten.

Kernspecht:BlitzDefence“ ist kein Stil, vielleicht hätte ich dem Kind keinen Namen geben sollen, und eigentlich ist es ursprünglich auch nur der Name des diesbezüglichen Buches. BlitzDefence ist stark vereinfachtes WingTsun, es ist nur ein Name für ein kleines, spezialisiertes Anwendungsgebiet des großen WingTsun: Selbstverteidigung im ritualisierten (Pseudo-) Kampf. Das englische Wort „Defence“ deutet darauf hin, dass es juristisch und moralisch um Verteidigung geht, und zwar um VERTEIDIGUNG GEGEN den sog. „Blitz“, die durch den berüchtigten historischen „Blitzkrieg“ bekannte Strategie, „blitz“-schnell über das ahnungslose Opfer herzufallen, bevor dieses weiß, dass es sich schon im Krieg befindet.
Um in diesem (degenerierten) Ritualkampf gegen die schmutzigen Tricks der Schläger bestehen zu können, konzipierte ich mit Hilfe von Erkenntnissen von Türstehern wie Geoff Thompson, Profis wie Karl Koch, aber auch von Trainern von Spezialeinheiten, von Juristen, Gehirn- und Bewusstseinsforschern, Körpersprachlern, Psychologen, Angstforschern, eigenen Forschungen und alten Quellen, die ich noch nicht offenlegen möchte, eine einfache Methode, die auf Rollenspiel basiert und die reine Technik aus unserem WT ableitet (hauptsächlich aus der Holzpuppenform).

XJH: Was ist im sog. „BlitzDefence“ denn so anders als im WingTsun? Ich meine jetzt nur technisch gesehen?

Kernspecht: Zum Beispiel die Entfernung zum Gegner. Im klassischen WT-Unterricht gehen wir von der genialen „Magnetzonen-Theorie“ GM Leung Tings aus. Wir betrachten uns selbst als Magnet und als Mittelpunkt eines imaginären Kreises. Überschreitet jemand (in feindseliger Absicht!) den Sicherheitabstand, der durch den Kreis dargestellt wird, geht der klassische WT-Kämpfer ihm entgegen, nimmt ihm den Raum zur Entwicklung und bringt ihn mit Salven von Kettenfauststößen in Verbindung mit dem Verfolgungsschritt (chasing and penetrating steps) zur Strecke.

XJH: Das ist juristisch wohl kaum haltbar, jemand k.o. zu schlagen, nur weil der zu dicht rankommt, oder?

Kernspecht: Eben. Notwehrrechtliche Gründe machten es nötig, die Technik anzupassen, wenn man den Schüler wirklich für die Gefahr der speziellen Ritualkampfsitation fit machen will. Der „Kampf“ beginnt hier nämlich nicht mit großem Abstand zum Gegner, sondern plötzlich in der kurzen Gesprächsdistanz. Daraus folgt, dass der sonst übliche aus der Siu Nim Tau bekannte IRAS nicht der Vorkampfstand im Ritualkampf sein kann.

XJH: Das verstehe ich, sonst könnte mir der Schläger ja sofort in die Genitalien treten oder sein Knie hochreißen. Gibt es sonst noch Unterschiede?

Kernspecht: Ja, in der Nahdistanz (Gesprächsdistanz) hat man ein Bein zum Schutz vorne und kann mit Yap- bzw. Bong-Gerk Knie- und Fußtritte ab wehren, ohne die Arme runternehmen zu müssen; während man in der Duellsituation, von der das klassische WT ausgeht, Tritte lieber nicht mit den Beinen abwehrt, um mobil zu bleiben und Richtungsänderungen ausführen zu können. Außerdem musste die übliche aggressive WT-Kampfhaltung mit Man-Sao/Wu-Sao leicht modifiziert und durch Gestik getarnt werden, damit wir nicht von Augenzeugen fälschlich für den Angreifer gehalten werden.

XJH: Ich verstehe: Sie wollen nicht nur auf der Straße, sondern auch vor Gericht gegen den Angreifer gewinnen.

Kernspecht: Und die bewährten Kettenfauststoßsalven bringen uns zu leicht den Vorwurf der Notwehrüberschreitung und fehlender Verhältnismäßigkeit. Dabei kann WT, so wie ich es verstehe, weil es die Kraft des Angriffes nutzt, die verhältnismäßigste Selbstverteidigung überhaupt sein, eine liebevolle und respektvolle Selbstverteidigung vor dem Leben des Angreifers.

XJH: Was hält GM Leung Ting von „BlitzDefence“?

Kernspecht: Grundsätzlich kommt alles von ihm, denn er ist meine unerschöpfliche Quelle. Aber er ist – wie ich – mit Recht besorgt, dass diese spezifische modene Anwendung sich mit dem klassischen WingTsun vermischt und es verändert. So reagiert er oft ungehalten darauf, wenn (besonders Anfänger nichtsahnend) in seinem klassischen WT-Seminar die „durch Gestik getarnte“ und im Rollenspiel geübte BlitzDefence-Modifikation von Man-Sao und Wu-Sao einnehmen. Diese Vermischung und damit Verwässerung ist auch nicht in meinem Interesse. Deshalb müssen die Ausbilder aufklärerisch mitwirken und darauf achten, dass eine kleine (aber u.a. aus juristischen Gründen nötige) Anwendung nicht ein ganzes System optisch (!) verändert. Denn selbstverständlich möchte ich, dass sich mein Si-Fu immer zu Hause fühlt, wenn er sein Seminar durchführt.
Ich weiß selbst, was für ein seltsames Gefühl ich habe, wenn ich auf einem Seminar bei Schülern Techniken sehe oder mit Theorien konfrontiert werde, die ich vorher nie gesehen habe und die das mehr oder weniger gelungene Produkt der Phantasie oder Kreativität des lokalen WT-Lehrers oder -Meisters sind. Wenn mir dazu von Lehrgangsteilnehmern Fragen gestellt werden, bin ich oft nicht in der Lage darauf zu antworten, ohne dass die Gefahr besteht, dass ich undiplomatisch Kritik an der Neuschöpfung meines Vetreters zu übe.
Das gleiche Problem stellt sich GM Leung Ting, wenn er auf seinen Seminaren zu Thesen befragt wird, die MEINE Weiterentwicklungen von seinen Theorien darstellen, die er mir in den vergangenen 28 Jahren irgendwann einmal nahegebracht hatte, aber dann selbst nicht weiterverfolgte, sondern mir zum Weiterdenken überließ.

XJH: Es scheint, dass Sie sich bewusst keinen Verdienst am Erfolg des WingTsun in der Welt zuschreiben lassen wollen. Dabei stellt die EWTO doch den größten Teil aller Lehrer und Schüler in der IWTA Großmeister Leung Tings. Was hätte Großmeister Leung Ting bei allem Respekt – ohne Ihre Arbeit als sein Statthalter und treuer Vasall erreicht?

Kernspecht: Was wäre ein Lehrer ohne seinen Schüler? Aber darf ich zurückfragen: „Was wäre ein Schüler ohne seinen Lehrer?“ Ich verdanke GM Leung Ting ALL mein WT-Wissen. Was hätte ich zeigen können, was unterrichten können, wenn er es mir nicht gezeigt und anvertraut hätte? GM ist der Schöpfer des WT, ich bin nur sein Vertreter, sein Wegbereiter. Wenn ich meinen Job – trotz aller Fehler – gut und erfolgreich gemacht habe, dann freut mich das.
Ich bin mit meiner Rolle als Herald, als Verwalter und als Interpret mehr als zufrieden.
Und ich möchte als Beispiel dienen, als Beispiel dafür, dass auch ein Mann in meinem Alter sein Ego so sehr bekämpfen kann, dass er trotz eigener zum Teil divergierender Ansichten und anderer Lebenseinstellung einem anderen gehorsam sein kann, wenn er dessen Autorität auf einem bestimmten Gebiet anerkennt. Ich kann nur verlangen, was ich selbst zu geben bereit bin. Wie kann ich z.B. Dankbarkeit erwarten, wenn ich meinem eigenen Meister nicht dankbar bin und meine eigene Leistung für die bedeutendste halte. Wir Menschen leiden schon genug an Selbstüberschätzung, weil wir ein Bild von uns selbst erfinden und uns darin verlieren.

XJH: Seit einigen Jahren bemerken auch Ihre schärfsten Kritiker und Neider eine grundlegende Veränderung in Ihrem Denken und Verhalten. Sie legen viel Wert auf Bewusstsein und auf die Philosophie, die hinter dem WingTsun steht. Was hat dieses Umdenken verursacht?

Kernspecht: Zunächst eine günstige Veranlagung, ohne die kein Same einen fruchtbaren Boden findet, und dann die richtige Situation, die einen aufnahmebereit macht, und dann entsprechende Einflüsse und Informationen, die mich im richtigen Augenblick erreichten, als ich dafür bereit war. WingTsun ist ein höheres, inneres Kung-Fu-System wie Tai Chi Chuan, Pakua oder Hsing-I, mit denen es sich viele Auffassungen teilt. Wenn wir einmal von der körperlichen Richtung, bei der es um reine Selbstverteidigung geht, absehen, erfüllt WT noch zwei weitere wichtigere Funktionen, die aber auf denselben Gesetzen oder Prinzipien beruhen wie das körperliche, äußere WingTsun. WingTsun als praktische (Überlebens-)Strategie, um sich durchzusetzen und sich „horizontal zu erweitern“. Diese Stufe ist aber nur ein Zwischenschritt wie die Larve für den Schmetterling, der sich aus der Larve ernährt, um zur wahren Schönheit und Bestimmung zu finden. Diese Selbstfindung ist das eigentliche Ziel der höheren Selbst-Verteidigungsschulen, die Befreiung von allem, was falsch ist, uns nötige Energien raubt und am Erkennen der Wahrheit hindert. Die körperliche Stufe ist nur das Oberflächliche, das von jedermann Erkennbare. So genial die WT-Kampftechnik ist, sie ist am Ende nur das Vehikel, das eine höhere und viel wichtigere Lehre transportiert.

XJH: Weshalb sind Kampfkünste wie Ken-Do, Karate-Do und Aiki-Do oft Mittel, um ein höheres Bewusstsein zu erreichen?

Kernspecht: Dieser Frage versuche ich in einem umfangreichen Buch gerecht zu werden, an dem ich seit Jahren mit großem Gewinn für mich arbeite.
Darf ich mich hier darauf beschränken zu sagen, dass die Gefahr und die damit verbundene Emotion „Angst“ in Verbindung mit zwei weiteren Elementen schneller Voraussetzungen zu einer bestimmten Entwicklung schafft, die man als Bewusstwerdung bezeichnen kann.

XJH: Muss das jeder Leser oder WT-Lernende verstehen?

Kernspecht: Nein, selbst als Vierzigjähriger hätte ich damit nichts anfangen können. Wenn ich damals bei Leuten wie Musashi oder Uyeshiba von solchen Erfahrungen las, hielt ich das für resignierendes Gelaber alter Männer, die nicht mehr die Kraft der Jugend besitzen und sich die neue Situation schön reden. Und jetzt muss ich gemeinsam mit meinem Freund Bill erkennen, dass bei mir auch ein Umdenkprozess stattgefunden hat und ich nicht mehr derselbe bin.

XJH: Herr Kernspecht, wir danken für das aufschlussreiche Interview.