Editorial

Häufige Missverständnisse über „Die Großen 7 Fähigkeiten“

Immer wieder musste ich in der Vergangenheit feststellen, dass Missverständnisse bezüglich der „Großen 7 Fähigkeiten“ auftauchten. Deshalb im nachfolgenden Gasteditorial ein Text von Dr. Oliver König, in dem er sich aus seiner Sicht einmal damit auseinandersetzt.

Schon 1996 legte Prof. Keith R. Kernspecht den Grundstein für eine akademische Richtung der EWTO, als er mit einem Team WingTsun an der bulgarischen Staatsuniversität in Plovdiv vorstellte und die ersten Kontakte knüpfte.
Die darauf folgende Zusammenarbeit mit Universitäten und auch seine eigene Promotion zum Doktor der Wissenschaften (Dr. sc.) zusammen mit verschiedenen WingTsun-Studiengängen (Bachelor, Master) musste zwangsläufig zu einer geänderten Betrachtungsweise des gesamten WingTsun führen.

Eines der Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Studien waren „Die Großen 7 Fähigkeiten“:

  1. Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Vorstellungskraft
  2. Gewandtheit, Beweglichkeit, Flexibilität
  3. Balance
  4. Körpereinheit
  5. Wahrnehmung, Staffel der Sinne
  6. Timing und Distanzgefühl
  7. Kampfgeist

Ich stoße immer wieder auf dieselben Missverständnisse, was die in unserem WT benötigten Fähigkeiten anbelangt – z.B. beim Lesen von Prüfungsarbeiten für höhere EWTO-Grade.

Ein interessantes Phänomen ist zu beobachten: Seit die EWTO den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Prinzipien und Fähigkeiten legt, und dies auch intensiv publiziert, tauchen auf vielen Mitbewerberseiten plötzlich ähnliche Betrachtungsweisen auf.
Mitbewerber übernehmen zunehmend unsere EWTO-Liste von Fähigkeiten. Natürlich nicht, ohne einige Fähigkeiten hinzuzufügen und andere wegzulassen, möglicherweise ohne darüber nachgedacht zu haben, warum etwa genau diese Fähigkeiten unverzichtbar sind und zum Ziel führen.
Meist fehlt das Verständnis, wofür wir im WingTsun „Die Großen 7“ benötigen:

Ziel im WingTsun ist es, sich mit Hilfe der „Großen 7 Fähigkeiten“ mühelos zu verteidigen.

Dies gilt für das innere, prinzipienorientierte WingTsun der EWTO!
 

Missverständnis Nr. 1:
„Alle Kampfkünste benötigen dieselben essenziellen Fähigkeiten wie unser prinzipienorientiertes EWTO-WingTsun.“

Ein Kampfsportler hat mir unlängst gesagt: „Oh, genau diese Fähigkeiten benötigen wir in unserem Kampfsport auch.“
– Meiner Meinung nach ist es aber unwahrscheinlich, dass jemand für seinen Kampfsport genau dieselben Fähigkeiten wie wir benötigt. Ich meine, er braucht z.B. Kraft-, Ausdauer- und Schnelligkeitstraining, um seinen Wettbewerb zu gewinnen.
Genau diese Fähigkeiten aber fehlen auf der Liste der „Großen 7“ im WingTsun der EWTO. Warum?

Muskelkraft wird im WT durch Körpereinheit ersetzt. Diese ermöglicht es auch Personen, die nicht besonders kräftig sind, den Gegner in einer Notsituation wirksam zu stoppen.

Bewegungsschnelligkeit ersetzen wir in unserem spezifischen WingTsun durch Timing (und kurze Wege). Durch die Ökonomie des Bewegens ist die absolute Bewegungsschnelligkeit nicht die entscheidende Größe. Schnelligkeit ist außerdem altersabhängig, d.h. sie nimmt im Alter kontinuierlich ab. Wer sich also auf pure Schnelligkeit verlässt, ist irgendwann verlassen.

Ausdauer ist eine Fähigkeit, die z.B. in einem sportlichen Wettkampf benötigt wird. Der fortgeschrittene WT-Kämpfer kann aber eine Auseinandersetzung in wenigen Sekunden beenden. Ausdauer ist hier also keine entscheidende Fähigkeit für den Kampf, sondern allenfalls fürs Training.
 

Denkfehler Nr. 2:
„Da fehlen doch noch einige Fähigkeiten!“

So werden immer wieder weitere Fähigkeiten hinzugefügt, nach dem Motto „mehr ist mehr. Diese sind aber für die Zielsetzung der mühelosen Verteidigung mittels WingTsun als grundlegende Fähigkeiten nicht nötig oder sie sind schon in den aufgezählten Fähigkeiten enthalten.

Manche Mitbewerber sind stolz darauf, dass sie herausgefunden haben, dass Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer maßgebend für ihren „ing-un-Stil sind.
Dies mag wohl für ihren eigenen, speziellen Stil zutreffen, nicht aber für das Anforderungsprofil des WingTsun der EWTO. Wer Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit als essenzielle Fähigkeiten zur Selbstverteidigung in seinem eigenen Stil sieht, betreibt einen „ing-un-Stil, der mit eben diesen Fähigkeiten den Mangel an anderen Fähigkeiten (z.B. Fühlfähigkeit und Flexibilität) ausgleicht: Wenn ich nicht feinfühlig ganzkörperlich nachgeben kann und mich als Ziel nicht aus der Schusslinie bekomme, dann muss ich das mit Kraft kompensieren oder eben schneller als mein Gegner sein. Ist der Gegner aber kräftiger oder schneller, dann funktioniert das leider nicht mehr.
 

Missverständnis Nr. 3:
„Balance-Übungen für Taekwondo und Judo sind auch das Richtige für WT.“

Ein weiterer Irrglaube ist, die Fähigkeiten zu sehr zu verallgemeinern. So gibt es Schüler, die bei Beweglichkeit oder Gewandtheit zu wenig WingTsun-spezifisch denken und glauben, sie können nun durch Üben des Spagats oder durch Yogaübungen die spezifische Flexibilität erlangen, die für WT benötigt wird. Dies trifft z.B. auch für die Balance zu. Sich z.B. auf spezielle Balancebretter zu stellen, reicht noch lange nicht aus, um die spezifische Balance für WingTsun zu erlangen. Die beste Übung für WingTsun ist das WingTsun-Kampfbewegen selbst. Ein Surflehrer hat bestimmt eine sehr gute Balance auf einem Surfbrett, wenn er aber von einem WingTsun-Lehrer geschubst wird, dann verliert er schnell sein Gleichgewicht. Im Gegenzug dazu kann ein WingTsun-Lehrer (leider) nicht automatisch surfen. Man sollte also vorwiegend das üben, was später wirklich benötigt wird. Alles andere kann dann, wenn man wirklich sehr viel Zeit hat, zusätzlich gemacht werden, aber nicht als Ersatz für die eigentliche Übung mit dem Partner.
 

Missverständnis Nr. 4:
Ich weiß schon, was mit Balance und Achtsamkeit gemeint ist.

Im täglichen Leben legt man seine Wörter (sic) nicht auf eine Goldwaage, bei unseren Untersuchungen müssen wir das aber. So bedürfen die „Großen 7“ einer Erläuterung, was mit den Begriffen von uns gemeint sein soll. So ist z.B. mit Balance das körperliche Gleichgewicht gemeint, aber auch das mentale Gleichgewicht.

Ein anderes Beispiel ist die Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit. Prof. Dr. Horst Tiwald hat in seinem wegweisenden Werk „Psycho-Training im WingTsun, Taiji und Budo-Sport“ verschiedene Begriffe, die in dieses Feld fallen, differenziert. So unterscheiden wir die Aufmerksamkeit (abgelenkte oder fremdbestimmte Konzentration auf ein spezielles Detail) und die selbstbestimmte Achtsamkeit (die nicht bei einem bestimmten Objekt verharrt und damit andere Informationskanäle und Informationen vernachlässigt).
Hier ein Beispiel von vielen: Ich konzentriere mich voll auf meinen Gegner und bemerke nicht, dass sich ein weiterer Gegner von der Seite nähert.

Es würde hier den Rahmen sprengen, alle Eigenschaften und deren Erläuterungen aufzuzählen. Ich verweise hier auf GM Kernspechts neues Buch.
 

Missverständnis Nr. 5:
„Wenn ich nur die Solo- und Partnerformen fleißig übe, stellen sich die 7 Fähigkeiten von ganz allein ein.“

In den 1970er Jahren haben wir von chinesischen Meistern die naive Auffassung kritiklos übernommen, dass durch ständiges Üben der Solo- und Partnerformen des WingTsun (= Fertigkeiten) automatisch die nötigen Fähigkeiten entstehen. Dies hat sich aber als völlig falsch herausgestellt und einen massiven Wandel in der Unterrichtsmethodik herbeigeführt. Nach wie vor halten einige an dem alten Denkmodell fest, obwohl sich längst herausgestellt hat, dass die Formen z.B. zwar hervorragend geeignet sind, Techniken abzuspeichern, nicht aber diese bei Bedarf wieder abzurufen (siehe „Die Essenz des WingTsun“ von Keith R. Kernspecht). So hat die EWTO nun auf Initiative meines SiFus (nicht das WingTsun, aber) manche Unterrichtsprogramme verändert bzw. ergänzt. Auf diese Weise ist es nicht nur dem Talentierten (Rumpfbegabten!) möglich, sein Ziel zu erreichen.
 

Missverständnis Nr. 6:
Es ist völlig egal, in welcher Reihenfolge die 7 Fähigkeiten trainiert werden.

Grundsätzlich hängen die meisten Fähigkeiten voneinander ab und Gleichgewicht im Kampf ist nicht möglich ohne Gewandtheit, Körpereinheit, Timing usw., so dass man die Großen Sieben nicht in einer Reihe anordnen kann, sondern sinnvoller Weise in einem Kreis. Beginnen muss aber alles mit der 1. Fähigkeit, der geistigen Kraft, die alles lenkt. Sie erschafft erst andere Fähigkeiten wie Körpereinheit usw. und befreit uns von blindem, automatischem Reagieren aus Gewohnheit. Der Kreis der Fähigkeiten, so wie ihn GM Kernspecht erkannt hat, schließt sich mit dem Kampfgeist, der 7. Fähigkeit.

Obige Aufzählung von Missverständnissen ist gewiss nicht vollständig, aber zum Glück hat mein SiFu schon sein nächstes Buch in Arbeit, das „Die Großen Sieben Fähigkeiten“ als Thema hat und seine Auswahl ausführlich begründet und beschreibt.
 

Gasteditorial
Dr. Oliver König