ChiKung

Identifizierung

Vor einiger Zeit schrieb ich zwei kurze Arbeiten über Aufmerksamkeit. Mit fremdbestimmter Aufmerksamkeit untrennbar verbunden ist der Begriff der „Identifizierung“. Auf diesen möchte ich nachstehend als kleinen Gedankenanstoß etwas genauer eingehen.

Im Wesentlichen könnte man zwei Arten der Identifizierung unterscheiden:

1. die Identifizierung mit „Dingen“ außerhalb unseres Selbst
    und
2. die Identifizierung mit „Dingen“ in uns selbst.

Die erste Variante ist, wenn wir fernsehen, im Kino einen Film oder in ein Schaufenster schauen, eine Zeitung lesen. Man kann diese Identifizierung sehr gut bei anderen mit verfolgen. Der Blick wird starr, folgt fast zwanghaft einer Handlung oder Bewegung und ist mit der Dramaturgie der äußeren Handlung völlig synchron.

Die zweite Variante, die Identifizierung mit inneren Dingen löst die erste meistens übergangslos ab.
Man versteht darunter den inneren Monolog, die Aneinanderreihung von Verstandesassoziationen. Auch hier bekommen Menschen einen starren Blick und nehmen nicht mehr war, was sich vor ihren Augen abspielt.
Man nennt diese Form der Geistesabwesenheit auch Tagträumerei. Wir lenken unsere Gedanken nicht, sondern werden von ihnen fortgetragen. Meist pendeln wir zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her, vermischt mit verschiedenen Emotionen je nach Charakterfärbung.

Ein Mensch im Zustand der Identifizierung ist nicht nur unbewusst, er ist auch eine Marionette der Umstände und äußerer Absichten. Er lebt nicht selbst, sondern wird gelebt.
Was immer man in diesem Zustand denkt, welche edlen Gedanken, Ideale, Ziele man auch verfolgt, welche guten Absichten man hatte – all dies ist nicht wirklich, sondern Teil eines Traums. In solch einem Zustand schläft ein Mensch nicht nur nachts, sondern in ähnlicher Weise auch am Tage, mit offenen Augen. Man ist dem Wachschlaf verfallen und oft gibt es ein böses Erwachen.

Aber solange er schläft, kann er gar nichts tun, was immer er von sich und seinem Leben meint. Diese Vorstellung von sich selbst ist ebenfalls Tagträumerei. Er ist und bleibt ein Reagierender.

Oft besteht der ganze Alltag nur aus einem fest eingespielten Umgang tagträumender Menschen. Je mehr man sich in den Gepflogenheiten, Umgangsformen, Ritualen des Alltags verstricken lässt, desto tiefer gerät man in den Wachschlaf. Es reißt uns dann meist für Sekunden aus diesem Zustand und wir bemerken erst, dass wir wieder eingeschlafen sind, wenn wir das nächte Mal herausgerissen werden. Dieses großartig eingespielte, ins feinste geregelte Netz der Identifizierung ist ein Gefängnis, in dem wir uns befinden.

Es stellt sich dann die Frage: Wie viele Minuten am Tag, wie viele Stunden in der Woche, im Monat, wie viele Tage in unserem Leben sind wir eigentlich wirklich wach?

Wir WT-ler, Escrimadores, ChiKungler haben da noch einen Vorteil. Bei unseren Werkzeugen, unseren Übungen können wir Wachsein üben, trainieren, lernen.

GM Bill Newman hat das auf seine Weise in einem unserer Gespräche einmal so umschrieben: „AJ (Diesen Namen bekam ich übrigens von ihm. Er meinte, bevor er meinen Namen Alfred-Johannes zu Ende ausgesprochen habe, sei das Seminar vorbei, also sagte er ab da AJ), wenn du einen Raum betrittst, wenn du irgendetwas machst, ist es ganz normal, dass du die Menschen, die Dinge wahrnimmst als deine Welt. Doch das reicht nicht. Du musst gleichzeitig ein Bild von dir haben, wie du diesen Raum betrittst – aus der Sicht dieser Menschen, Dinge. Nur wenn du beide Bilder gleichzeitig wahrnimmst, bist du wach. Das gilt auch für einen Kampf. Das gilt für alles.“

Versuche einmal Folgendes: Wie lange kannst du diesen Zustand halten? Wie schnell schläfst du wieder ein?

Vielleicht sollten wir öfter einen „Stopp“ in unserem Denken, unserem Handeln, in unseren Wünschen einlegen, damit wir uns die Chance geben, aufzuwachen, bevor fremde Absicht uns in einen Schlamassel führt, der uns zum Erwachen zwingt.

Und zum Schluss: Dies alles hat für mich, sehr viel mit ChiKung zu tun; denn nur Wachsein lässt uns die Welt und uns so wahrnehmen wie wir sind, wie sie ist, nicht mehr und nicht weniger – und das ist die Ausgangsbasis für jede wirkliche Handlung.

Text: Alfred-Johannes (AJ) Neudorfer
Fotos: fotolia