WingTsun

Jeder kann von WingTsun profitieren

Mit Erfolg bietet Stefan Schmaltz WingTsun als Maßnahme in den Husumer Werkstätten an.

Im Sport-Übungsraum der Husumer Werkstätten stehen zwei Turn-Kästen einander gegenüber. Eigentlich reicht der Platz zwischen den Kästen aus, um bequem hindurch zu laufen. Eine siebenköpfige Kurs-Gruppe hat sich zusammen gefunden und trainiert unter der bedächtigen und einfühlsamen Anleitung von WingTsun-Lehrer Stefan Schmaltz, Angst einflößende Situationen zu bewältigen. Dazu gehört, für bestimmte Gelegenheiten die Stimme zu schulen. „Selbstbehauptung heißt auch, dass die Stimme mitunter energisch eingesetzt werden kann“, sagt der Trainer. „Mimik und Gestik müssen der jeweiligen Situationen angepasst sein.“ Schmaltz hat sich auf einem der beiden Kästen nieder gelassen und ein Bein auf den anderen gestemmt – so ist kein Durchkommen. Frauke ist dran. Sie lächelt etwas unsicher. Dann, leise, ihre höfliche Anfrage: „Kann ich bitte durch?“ „Nö“, kommt die knappe Antwort. Frauke amtet durch, das Lächeln verschwindet, lauter und energischer: „Läßt du mich jetzt durch?“ Schon besser. Der Weg wird frei gegeben.

Seit Anfang Januar wird in den Husumer Werkstätten WingTsun angeboten als eine arbeitsbegleitende Maßnahme in Kursform. Sie ist zunächst auf sechs Monate angelegt. WingTsun, eine Selbstverteidigungs-Art, heißt übersetzt „Schöner Früh-ling“ und ist vielfältig und facettenreich. Für die Kursteilnehmer sind die „sanften Seiten“ dieses Systems am wichtigsten: An erster Stelle steht das Angstüberwindungs-Training. Dazu Sozialpädagoge Jürgen Claussen, der diese Maßnahme begleitet: „Wir haben uns auf einen Personenkreis konzentriert, der etwas furchtsam und zurückhaltend veranlagt ist. Die fehlende Wehrhaftigkeit führt bei diesen Menschen oft dazu, dass sie sich buchstäblich die Butter vom Brot nehmen lassen. Durch das wöchentliche Training hoffen wir, bei den Kursteilnehmern die Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben zu können.“

Siart ist seit Beginn der Maßnahme dabei. „Anfangs war ich neugierig, was wohl hinter dem Kurs steckt“, erzählt der Achtzehnjährige. „Diese wöchentlichen Übungen haben mich erst sehr angestrengt.“ Freundlich hilft Claussen weiter: „Standest du unter Spannungen?“ Das ist das richtige Wort. Der junge Mann nickt: „Ja. Mittlerweile fällt mir das Training viel leichter.“ Ganz so weit ist die 35-jährige Carola noch nicht. Sie ist Seiteneinsteigerin und hat erst an zwei Stunden teilgenommen. „Ich will aber dabei bleiben und hoffe, noch viele Ängste aufzulösen“, sagt sie fest. „Schließlich will ich mit mir vorwärts kommen!“

Die Teilnehmer sollen lernen, gegenüber Mitmenschen Grenzen zu setzen und das Wagnis einzugehen, ihre eigene Persönlichkeit zu leben. Hier wird trainiert, auch einmal zu „nein“ sagen zu können, denn wer das kann, sagt damit „ja“ zu sich selbst, wie es Claussen formuliert. In diesem Selbstbehauptungs-Kurs wird das Rüstzeug für das Leben außerhalb der Werkstätten mitgegeben. Das oberste Kursziel lautet: Mehr Selbständigkeit vermitteln! In Schmaltz‘ Lehrkonzept gehört auch die Schulung der Bewegungsmotorik. Die Bewegungen fließen langsam ineinander über und haben doch einen exakten Rhythmus: Den rechten Arm vorstrecken, Handfläche nach oben drehen, Faust ballen, den Arm zurücknehmen, fallen lassen, ausschütteln. Gleichgewichtsübungen und das Wechselspiel von Anspannen und Lockerlassen der Muskulatur wird trainiert. In kleinsten Schritten und in ständiger Wiederholung, „denn“, so Schmaltz, „das Gehirn braucht, um sich etwas dauerhaft merken zu können, eine hohe Wiederholungsrate.“ Stefan Schmaltz erlitt vor 15 Jahren einen schweren Autounfall, bei dem er Gehirnverletzungen davontrug und fast zwei Wochen im Koma lag. Es folgte eine langjährige Leidensgeschichte. Eine vollständige Heilung war nach Ansicht der Mediziner so gut wie ausgeschlossen. Mit Ausdauer und eisernem Willen begann er, die asiatische Kampfkunst WingTsun zu erlernen. Trotz vieler Rückschläge konnte der 38-Jährige dadurch seine Bewegungen wieder unter Kontrolle bringen. Ein Leben im Rollstuhl und mit unkoordinierter Motorik ist ihm erspart geblieben.

Text: Husumer Nachrichten