WingTsun

Kampfkunstlebenslauf von Felix Schönfelder

Im Folgenden werde ich versuchen darzulegen, wie sich meine Entwicklung in den Kampfkünsten vollzog. Da WingTsun nur einen Teil meines Kampfkunstlebens darstellt, werde ich nicht nur auf WingTsun eingehen, sondern auch auf Judo, das ich vorher trainiert hatte. Da diese Arbeit jedoch für den 1. Lehrergrad WT gedacht ist, wird der Schwerpunkt auf meiner Entwicklung im WingTsun liegen.

Auf Escrima, das ich parallel dazu trainiere und womit ich zur selben Zeit begann, werde ich aus Platzgründen nicht näher eingehen. Nur soweit das Escrima-Training mein WingTsun beeinflusste, soll kurz davon die Rede sein. Wie der Name der Arbeit aber bereits verrät, geht es auch und vor allem um den Kampf, wofür WT speziell entwickelt wurde. Ein Kampfkunstlebenslauf müsste also unvollständig bleiben, ohne eine Darstellung meiner – nicht sehr reichen – Kampferfahrungen.

Der Übersichtlichkeit halber ist die Arbeit daher systematisch-chronologisch gegliedert. Sie beginnt mit einer Darstellung der Phase vor dem WT. Danach werde ich mich mit der Zeit befassen, seit ich WingTsun lerne, wobei dieser Abschnitt in zwei Teile – einen „schulinternen" und einen „schulexternen" – getrennt ist. Abschließend werde ich versuchen, eine Zusammenfassung und einen Ausblick zu geben.

Die Zeit vor dem WingTsun

Mit sechs Jahren wurde ich zum Judo im örtlichen Sportverein angemeldet. Dort trainierte ich vier Jahre, bis ich mir bei einer Flugrolle den linken Unterarm brach. Damit war meine Judokarriere beendet. Eigentlich wollte ich Karate lernen und versuchte, meine Mutter zu überreden, mich dafür anzumelden, was sie kategorisch ablehnte. Sie war der Ansicht, dass ich eine Selbstverteidigung erlernen sollte, mit der man den Gegner überwältigen konnte, ohne zuzuschlagen, am Besten, ohne ihn überhaupt zu verletzen. Da sie vom Judo wusste, dass es ohne Schlagen und Treten, nur mit Hebeln, Werfen und Fegen auskommt, meldete sie mich dort an, wovon ich zunächst überhaupt nicht begeistert war. Das änderte sich jedoch, als ich erfuhr, dass ein Nachbar ebenfalls Judo trainiert hatte, der mir dann einige Würfe zeigte und mich so von der „Wirksamkeit" der Techniken überzeugte. Es ist jedoch hinzuzufügen, dass besagter Nachbar zehn Jahre älter war als ich.

So stellte sich nach kurzer Zeit auch heraus, dass die „Wirksamkeit" des Judos verpufft, sobald man sich einem größeren, schwereren oder stärkeren Gegner gegenübersieht, was ich intuitiv schnell erfasste. Während des Trainings jedoch spielte der Gegner oft mit: er ließ sich werfen und hebeln, würgen und fegen, so dass ich leicht vergaß, dass viele der im Training „wirkungsvollen" Techniken in einer realen Situation nutzlos sind und nicht funktionieren. Entsprechend nützte das Training auf dem Schulhof nichts; weder bei Rangeleien, noch bei ernsthaften Auseinandersetzungen. Gerade bei letzteren sah ich mich einer Aggression hilflos ausgesetzt. Da ich selten von körperlich Schwächeren angegriffen wurde, nutzte das Judo nichts. Ohne das Vertrauen in die Wirksamkeit der Techniken fehlte mir aber auch das Wichtigste im Kampf: Selbstvertrauen. So jedoch war ich auch körperlich unterlegenen Gegnern nicht gewachsen. In ihrem Wissen um die eigene Schwäche gehen diese oft besonders aggressiv vor, um diesen Nachteil auszugleichen. In einer Auseinandersetzung, mit einem kleineren und schmächtigeren Gegner, bei der ich etwa acht oder neun Jahre alt gewesen sein dürfte, schrie dieser mich kurz an, trat mir in den Unterleib und die Sache war bereits gelaufen, bevor sie richtig begonnen hatte.

Das Wissen um die eigene Verteidigungsunfähigkeit hatte vor allem eine Konsequenz: ich steckte immer zurück, sobald die Situation zu eskalieren drohte und machte Zugeständnisse, die ich eigentlich nicht machen wollte. Zum Beispiel forderte mich im Alter von ungefähr vierzehn Jahren jemand, der in Begleitung zweier Freunde war, dazu auf, ihm meinen Tabak zu reichen, so dass er sich eine Zigarette drehen könne. Prinzipiell hätte ich gar nichts dagegen gehabt, doch macht der Ton die Musik und das Begehren wurde nicht in Form einer Bitte vorgetragen, sondern in Form einer frechen Forderung, unterlegt mit der Drohung, dass es im Falle einer Weigerung eine Abreibung gebe. Kurz gesagt: ich konnte nicht ich selbst sein. Zusammen mit meiner „guten" Erziehung, Konflikte mit Worten, nicht mit Fäusten zu regeln, führte das mangelnde Vertrauen in die eigene Verteidigungsfähigkeit dazu, dass ich es war, der zurücksteckte, wenn es hart auf hart kam. Dies wiederum führte zu einem weiteren Verlust des Selbstvertrauens.

Es soll nicht der Eindruck entstehen, als sei ich total verängstigt gewesen und regelmäßig verhauen worden. Tatsächlich sind die erwähnten Auseinandersetzungen fast die einzigen gewesen, die ich im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren erlebt habe, so dass sie eindeutig die Ausnahme darstellten. So kam es jedoch, dass ich in potentiell gefährlichen Situationen verkrampfte und damit natürlich nicht besonders souverän wirkte, diesen Situationen aus Angst, ihnen nicht gewachsen zu sein, aus dem Weg ging und dadurch einfach meine Lebensqualität darunter litt. Insgesamt führten meine schlechten Erfahrungen mit Judo und die Geschichten, die ich vom Karate hörte, dazu, dass ich Budo-Stile eher belächelte und Kampfsportarten wie Boxen oder Kickboxen als die realistischen Stile betrachtete.

Mein Weg zum WingTsun

Mit WingTsun kam ich etwa mit sechzehn Jahren das erste Mal in Berührung, als ein Freund, der aus München zugezogen war, davon erzählte. Dieser suchte sich auch ziemlich rasch in der Umgebung eine WT-Schule und berichtete mir in der folgenden Zeit – wir besuchten dieselbe Klasse – vom WingTsun. Ich war sofort von den Kettenfauststößen begeistert, die in meinen Augen eine simple Lösung auf die meisten Angriffe darstellten. Auch wenn ich nur Fragmente der Theorie des WingTsun mitbekam, leuchteten mir diese fast immer sofort ein: keine Abwehr, sondern Gegenangriff; nicht gegen die Kraft des Gegners arbeiten, sondern mit seiner Kraft; von verschiedenen Techniken ist die simpelste die Beste etc. Daneben machten vor allem zwei Umstände das WingTsun für mich attraktiv. Einerseits das Training mit T-Shirt, Pullover und Straßenschuhen auf Parkett oder Teppichboden, und nicht im traditionellen Anzug und barfuß auf der Matte, denn damit war ein höherer Realitätsbezug gegeben. Andererseits – und das war für mich wesentlich wichtiger – die Tatsache, dass mir WingTsun sehr undogmatisch und unhierarchisch erschien. Eine hierarchische, dogmatische Struktur wäre für mich aufgrund der liberal-anarchistischen Philosophie, die ich mir damals zu eigen machte, untragbar gewesen. Obwohl mich das WingTsun sehr ansprach, hatte ich mich zu jenem Zeitpunkt aus Faulheit noch nicht dazu entscheiden können, es zu erlernen.

Das änderte sich, als ich achtzehn war. Ausschlaggebend war eine Auseinandersetzung mit zwei etwa gleichaltrigen Jungs. Worum es ging, weiß ich nicht mehr, doch unterhielt ich mich gerade mit einem meiner Freunde, der sich, als es losging, umdrehte, so dass ich mich den beiden praktisch alleine gegenübersah. Mit der Erfahrung, dass man sich in Zwei- (oder Mehr-) Kampfsituationen nicht einmal auf seine Freunde verlassen kann, war mir klar geworden, dass man sich wenigstens auf sich selbst verlassen können sollte. Daher begann ich im Februar 1997 mit dem WT-Training.

Mein Weg mit WingTsun

Mein erster Besuch der WT-Schule Troisdorf begann mit einer Überraschung, denn mein Si-Suk Andreas Geller sieht nicht so aus, wie man sich einen Lehrer für WingTsun gemeinhin vorstellt. Vom Unterricht war ich allerdings direkt so begeistert, dass ich, obwohl ich zunächst eigentlich nur zuschauen wollte, direkt beim Training mitmachte.

Den ersten und zweiten SG bestand ich ohne größere Probleme, wobei ich auf die Prüfung zum zweiten SG, wie alle weiteren geraden Prüfungen, bei Sifu Hans Remmel ablegte. Die erste größere Hürde stellte das Programm für den dritten SG dar. Aufgrund des gehobenen Anspruchs hinsichtlich der Koordination der Bewegungen beim Lat-Sao Programm war dies das erste Mal, dass ich mich fragte, ob WT das Richtige für mich sei. Hatte ich beim ersten und zweiten Schülergradprogramm den Dreh schnell heraus, dauerte es beim dritten SG recht lange, bis ich damit vertraut war. Als ich diese erste „Krise" jedoch überwunden hatte, war mein Ehrgeiz, WT zu erlernen, eher noch gestiegen.

Während das vierte und fünfte Schülergrad-Programm mir hingegen wieder mehr lagen, schob ich die Prüfung auf den fünften Schülergrad lange vor mir her. Grund dafür war der in der Prüfung vorgesehene Freikampf, dem ich mich schlicht nicht gewachsen fühlte. Ich würde nicht sagen, dass ich Angst vor dem Freikampf an sich hatte, denn aufgrund der Schutzbekleidung (Weste, Helm, Faustschoner etc.) und unter Aufsicht konnte kaum etwas Ernsthaftes passieren. Vielmehr würde ich rückblickend sagen, dass es die Angst davor war, möglicherweise der Schlechtere und offensichtlich Unterlegene zu sein, womit eine gewisse Demütigung verbunden gewesen wäre. Jedenfalls schob ich die Prüfung so lange vor mir her, bis ich sie von meinem Si-Suk verordnet bekam.

Einen weiteren Einschnitt stellte das siebte Schülergrad-Programm dar. Insbesondere das Chi-Sao machte mir Probleme und ich überlegte, wie beim dritten Schülergrad, ob ich mit dem WT aufhören sollte. Irgendwie entschied ich mich jedoch dazu, weiter zu trainieren, und legte die Prüfung zum siebten SG ab. Auf dieser Prüfung mußte ich mich am Ende in die Mitte eines Kreises von fünf oder sechs Mitschülern stellen, die mich nach Belieben angreifen durften. Bedeutsam daran ist, dass ich mich, obwohl ich zu Beginn richtig nervös war, gut schlug und mir diese Anwendung wirklich Spaß machte. Ich fühlte mich wohl dabei. Insofern stellte diese Prüfung eine Zäsur dar.

Achtes und neuntes Schülergrad-Programm wiederum bereiteten mir wenig Schwierigkeiten, ganz im Gegensatz zum zehnten. Dabei wirkte sich zum ersten Mal wirklich gravierend aus, dass ich der einzige war, der auf den zehnten Schülergrad ging. Ich war zwar schon, seit ich den fünften SG hatte, alleine auf der jeweiligen Stufe gewesen und es gab seitdem auch immer nur einen oder zwei höher Graduierte, doch hatte das mein Fortkommen nicht wirklich behindert. Das änderte sich damals, denn da die anderen auch ihre Programme trainieren wollten, konnte ich pro Einheit nie mehr als zehn Minuten mein Programm üben, was dazu führte, dass ich ein Jahr brauchte, um den zehnten SG zu bekommen. Mit dem Bestehen des zehnten SG’s wuchs mein Selbstvertrauen aber enorm, denn wenn man Chancen hat, gegen mehrere Gegner zu bestehen, dann erst recht gegen einen einzelnen.

Eine Herausforderung stellte noch einmal das zwölfte Schülergradprogramm dar. Die Anwendungen des elften waren mir durch das Escrima-Training schnell vertraut gewesen und auch die Palmstick-Techniken des zwölften gingen mir dadurch relativ leicht von der Hand. Schwieriger jedoch waren die „sanften Mittel" und die Möglichkeiten gegen Schusswaffenbedrohung zu erlernen. Erstere unter anderem, weil ich es einfach nicht mehr gewohnt war, nicht zuzuschlagen. So dauerte es einige Zeit, bis ich diesen Reflex unter Kontrolle hatte. Die zweite Schwierigkeit hinsichtlich der sanften Mittel bestand anfangs darin, körperlich Überlegene richtig zu kontrollieren ohne zuzuschlagen, gerade, wenn sie sich wehrten. Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass die „sanften Mittel" durchaus schmerzhaft für den Gegner sein dürfen. Bei den Möglichkeiten gegen Schusswaffen bestand die Schwierigkeit hauptsächlich darin, mir vorzustellen, dass es sich bei der ungeladenen Schreckschusspistole um eine scharfe Waffe handelt. Die Prüfung zum zwölften Schülergrad war die anstrengendste, die ich je abgelegt habe. Nach zwei Mal zehn Minuten Chi-Sao und Lat-Sao mit Sifu Hans, Kettenfauststößen gegen den Wandsack, Kniestößen und Ellenbogen gegen den Sandsack, Kniebeugen, Sit-ups, Liegestützen, Lap-Sao Fauststoß Drill, Pak-Sao Fauststoß Drill, Kampf gegen mehrere, bewaffnet und unbewaffnet, Palmstick gegen beliebige Angriffe, „sanften Mitteln" gegen beliebige Angriffe und drei Mal vom Boden hochkämpfen und eine Tür "bewachen", hatte ich die Prüfung bestanden. Danach hatte ich auch das Gefühl, etwas dafür geleistet zu haben.

Vom parallelen Escrima-Training habe ich auch im WT profitiert. Zunächst aus Motivationsgründen. Das heißt, immer wenn etwas im WT nicht geklappt hat und die Luft vorübergehend raus war, hat Escrima als Ausgleich fungiert und so einen Anreiz zum ausdauernden Training gegeben. Außerdem stellt Escrima ein gutes Vergleichsobjekt zum WT dar. Viele Konzepte und Strategien sind identisch, so dass man sein Auge dafür schulen kann, was funktioniert und was nicht. Ferner erhöht Escrima einfach die Konzentration auf den Punkt, die Aggressivität im Kampf und das Auge wird besser geschult. Schließlich ist Escrima eine gute Ergänzung, da die WT-Waffen erst zu einem weit fortgeschrittenen Punkt unterrichtet werden, es jedoch jederzeit passieren kann, dass man sich mit bewaffneten Angreifern auseinandersetzen muss und man sich mit einer Waffe, sei es ein Regenschirm oder ein Aschenbecher, besser verteidigen kann, als waffenlos. WT und Escrima ergänzen sich meines Erachtens gegenseitig, und ich denke, dass mir diese Kombination sehr genützt hat.

Was Selbstverteidigungssituationen angeht, bin ich nicht besonders reich an Erfahrung. Dennoch oder gerade deshalb sollen diese Ereignisse erwähnt werden. Bei der ersten Begebenheit hatte ich den fünften oder sechsten SG. Einer meiner Bekannten, der selber boxt, geriet mit einem Betrunkenen vor einer Kneipe aneinander. Das Ganze begann wie immer verbal und plötzlich gab dieser jenem eine schallende Ohrfeige, gefolgt von Beleidigungen. Mein Kumpel nahm seine Deckung hoch und wich zurück, ich ging vor und schubste den Aggressor weg, woraufhin er an die Wand hinter sich prallte, um noch wütender wieder hervorzustürmen. Vermutlich aufgrund seines Zustandes – er war wie erwähnt randvoll – wusste er schon gar nicht mehr, wer ihn an die Wand gefeuert hatte und ging auf einen anderen Freund los, der gerade aus der Kneipe trat und überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah. Der Betrunkene hatte ihn auch schnell im Schwitzkasten, weshalb ich ihm mit einem doppelten Jum-Sao den Kopf nach hinten zog, woraufhin er auch sofort von seinem Opfer abließ und anfing, wild um sich zu schlagen und sich zu winden, um sich irgendwie zu befreien. Ich ließ los und versetzte ihm einen doppelten Handflächenstoß auf die Brust. Das geschah offensichtlich in einem so günstigen Augenblick, dass er regelrecht abhob und mit dem Hinterkopf auf die Stoßstange eines dort parkenden Autos aufschlug. Als er nicht sofort wieder aufstand, schlug mir das Herz bis zum Hals und die fünf oder sechs Sekunden seines K.O.’s kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich war heilfroh, als er wieder zu sich kam. Obwohl er eine veritable Platzwunde am Hinterkopf hatte, aus der das Blut nur so herausströmte, wollte er den Kampf fortsetzen und musste von seiner Freundin, die mittlerweile aus der Kneipe herausgekommen war, fortgezogen werden.

Diese erste und einzige schwerwiegendere Konfrontation, die ich hatte, seit ich mit WT begonnen habe, hat mir mehrererlei verdeutlicht. Erstens: es ist immer besser, wenn man sich auf sich selbst verlassen kann, denn als es zur Sache ging, standen einige Leute, die ich kannte, um die Szene herum, taten jedoch nichts. Nicht unbedingt, weil sie nicht wollten, sondern vielleicht auch, weil sie einfach nicht wussten, wie sie damit umgehen, was sie machen sollten. Zweitens: ein vermiedener Kampf ist ein gewonnener Kampf. Diesen Spruch habe ich vom Beginn meines Trainings an vorgebetet bekommen, doch ist es etwas anderes, ob man das nur im Training hört, oder ob man die Konsequenzen eines Kampfes selbst vor Augen geführt bekommt. In diesem Falle, dass mein Gegner erst mal liegen geblieben ist, nachdem er auf die Stoßstange aufgeschlagen war. Drittens: kommt es dennoch zum Kampf, beende ihn schnell und kompromisslos. Anstatt das vierte Kampfprinzip anzuwenden und dem Gegner zu folgen, setzte ich nicht sofort nach, sondern blieb zunächst stehen, was dazu führte, dass er sich erholen und erneut angreifen konnte. Glücklicherweise hatte dieser Fehler keine schlimmeren Folgen. Abgesehen davon, dass sich einfach die Wahrscheinlichkeit erhöht, selber getroffen zu werden, je länger der Kampf dauert, hätte mein Gegner auch die Gelegenheit gehabt, eine Waffe zu ziehen oder Freunde aus der Kneipe zu Hilfe zu holen. Viertens: Training und Realität sind zwei Paar Schuhe. Vor allem das Adrenalin bewirkt eine ganz andere Wahrnehmung des Geschehens. Manche Dinge funktionieren im Training besser, andere nicht. Beispielsweise hatte ich mit dem Verfolgen des Gegners im Training wenig Probleme, auf der Straße habe ich nicht einmal daran gedacht. Andererseits war der doppelte Handflächenstoß sehr wirksam, wirksamer, als ich im Training je gedacht hätte. Der Vorfall hatte jedenfalls eine positive Auswirkung auf meine Trainingseinstellung.

4. WingTsun forever? (Schlussbetrachtung)

Dass ich mit WingTsun begonnen habe, hatte nur einen Grund: ich wollte lernen, mich selbst zu verteidigen. Obwohl dieser Punkt für mich immer noch der Zentrale ist, sind im Laufe der Zeit einige andere an seine Seite getreten. Dazu gehört zum Beispiel die Philosophie des WingTsun. Vor allem der Taoismus ist für mich äußerst interessant. Da ich im Nebenfach (westliche) Philosophie studiere, stellt das WingTsun für mich mithin eine gute Möglichkeit dar, einige fernöstliche Philosophien kennenzulernen – in Theorie und Praxis.

Das WingTsun hatte aber auch direkte Auswirkungen auf mich selbst. So glaube ich, dass ich dadurch insgesamt gelassener und entspannter – auch in geistiger Hinsicht – geworden bin. Seit ich WingTsun praktiziere, rege ich mich weniger schnell auf, mein Selbstvertrauen ist gewachsen und ich versuche, die Kampfprinzipien und Kraftsätze auch auf anderen Gebieten, beispielsweise in Diskussionen, anzuwenden. Somit kann ich behaupten, dass das WingTsun auch einen positiven Einfluss auf mein Leben außerhalb der Selbstverteidigungsfähigkeit hat.

Eingangs erwähnte ich, dass mir hierarchische Strukturen an sich unsympathisch sind, und auch wenn WT auf den ersten Blick vielleicht als äußerst streng hierarchisiert erscheinen mag, so ist es das bei näherem Hinsehen meines Erachtens nur äußerlich. Es heißt, WT beginne strikt formal und ende formlos – WT erziehe zur Selbständigkeit. Angestrebt wird also eine Entwicklung des Schülers hin zur Selbständigkeit und zur freien Entfaltung seines Potentials, was konform geht mit dem Ziel klassischer Liberaler, wie z. B. Wilhelm von Humboldt. Auch die Autorität des Ausbilders steht dem nicht entgegen. Um es mit Michail Bakunin zu sagen: „Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner Vernunft auferlegt wird. (...) Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität und Geleiteter." Wenn ich also WT erlernen will, so wende ich mich an jemanden, der auf diesem Gebiet vorangeschritten ist. „Ich höre sie [die Spezialisten; d. Verf.] frei an und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührender Achtung, behalte ich mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor." Und so handele ich auch beim Training. Wenn mir etwas nicht einleuchtet oder ich etwas nicht verstehe, so frage ich nach und bisher wurden fast alle meine Fragen beantwortet. Ich versuche jedoch auch, mir selber Fragen zu beantworten, Neues mit Altem zu verknüpfen, die Dinge zu durchdringen und mich so zu verbessern.

Da ich besser werden möchte und nicht schlechter, werde ich auch in Zukunft ausdauernd trainieren, getreu dem Motto Calvin Coolidges: „Nichts auf der Welt kann Ausdauer ersetzen. Talent jedenfalls nicht – nichts ist so häufig wie erfolglose Leute mit Talent. Auch Genialität nicht – verkannte Genies sind sprichwörtlich. Allein Beharrlichkeit und Entschlossenheit sind allmächtig."

Felix Schönfelder