Editorial

Ohne Formen und Techniken geht es nicht!

Trotzdem sage ich Fortgeschrittenen: „Die Techniken in den Formen sind zweitrangig.“ Oder auch noch radikaler: „Es gibt keine Techniken!“

Dennoch kommt meines Wissens nach keine einzige authentische asiatische Kampfkunst wirklich ohne Formen und Techniken aus.     
Formen sind das kodifizierte Wissen der alten Meister und ihre Hinterlassenschaft an ihre Nachfolger zu einer Zeit, als kaum einer schreiben und lesen konnte und es keine Videos gab.

Durch Filme und Magazine geprägt, erwartet der Anfänger der asiatischen Kampfkünste Formen und scheint sie auch zu brauchen. Geben sie ihm doch einen großen Fundus an Beispielmaterial, mit dem er die Prinzipien langsam verstehen lernt.
Die Formen und damit die darin enthaltenen Techniken bringen dem Schüler das Prinzip bei, und das Prinzip bringt ihm WingTsun bei.

Der Unterricht der asiatischen Kampfkünste beginnt also mit Formen.

Formen und „Techniken auf Vorrat“ dienen dem Schüler als „Bei-Spiel-Material“ und er hat etwas Greifbares, das er mit nach Hause nehmen kann. Mit abstrakten Prinzipien kann der Anfänger noch lange Zeit nichts anfangen.

Wer als Fortgeschrittener und Lehrer aber immer noch nichts mit den WingTsun-Prinzipien anfangen kann, „Anpassung“ und „Nachgeben“ und „Borgen der gegnerischen Kraft“ nicht begreift, der bleibt ein ewiger Anfänger und wenn er noch so grimmig und martialisch dreinschaut und sollte lieber einen Stil betreiben, bei dem man stärker als der Angreifer sein muss, um sich verteidigen zu können!

Hier ist auch die Bemerkung angebracht, dass der WT-Kämpfer eben nicht wie ein „Kämpfer“ auftreten soll, sondern wie ein „Gelehrter“. So nannte man Yip Man (bitte richtig mit „Y“ am Anfang!) den „WingTsun-Scholar“. Das gilt besonders für unser Inneres WingTsun (WT!).

Unsere Blutsverwandten sind die von Yim Wing Tsun abstammenden Stile. Aber seelenverwandt sind wir (auch) den inneren, taoistischen Stilen:

  • auf chinesischer Seite dem Tai Chi, Hsing-I und Pakua;
  • auf japanischer dem Aiki, dem alten, ausgestorbenen Ju-Jutsu und
  • auf koreanischer dem Hapkido.

Dass wir uns dennoch ganz anders bewegen, steht auf einem anderen Blatt.

Das EWTO-WingTsun folgt, was die Formen (Solo-, Waffen- und auch Partnerformen) anbelangt, der Überlieferung durch meinen eigenen SiFu, Großmeister Leung Ting (geb. 1947), der der sog. „Closed-Door-Schüler“ (Privatschüler hinter verschlossener Tür) von GM Yip Man war.


Auszug aus meinem nächsten Buch „Jenseits von Techniken – Die Essenz des Inneren WT“, das mit Glück noch Weihnachten erscheinen könnte. Preis usw. noch unbekannt.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht