Editorial

Problemzonen entschärfen

Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die das Miteinander beim Trainieren vergällen können. Aber Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Durch Kenntnis einiger „Problemzonen“ und unserer Etikette beim ChiSao- bzw. ReakTsun-Training lässt sich manche Situation ohne großen Aufwand entschärfen.

 

Nur was getroffen hat, ist ein Treffer!

Was aber ganz besonders ärgerlich für Lehrer ist und ein Hindernis für echtes Lernen, sind Schüler, die schon äußerlich oder insgeheim „Treffer!!!“ jubilieren, bevor ihre Hand den Lehrer überhaupt berührt hat. Oft outen sich solche Schüler durch einen besonders selbstgefälligen Gesichtsausdruck, nachdem sie ihren Angriff vor dem Erreichen des Zieles unverrichteter Dinge abgebrochen haben. In ihrer Vorstellung haben sie den Lehrer getroffen und genießen triumphierend ihren Sieg. Sie wollten ja nicht „durchziehen“, denn man hat ja schließlich Respekt vor dem Lehrer …

Diesen lieben Leuten sei gesagt, dass ein Schlag erst dann getroffen hat, wenn er getroffen hat. Selbst wenn unser Fauststoß nur noch einen Zentimeter bis zum Gesicht des Lehrers hätte, muss er deshalb nicht treffen. Manche Meister lassen den Angriff bis zur Streckung des Armes des Gegners vorkommen, ohne ihn zu behindern. Stattdessen entfernen sie nur minimal den angegriffenen Körperteil, in der oft berechtigten Erwartung, dass der Angreifer sich vorlehnen muss, in den Konter hineinfällt, ohne sein Gleichgewicht wiedererlangen zu können.

Ich selbst nehme zu diesem Zweck meinen Kopf WingTsun-untypisch weit nach vorn – ihn dem Gegner in der Weise eines Agent Provocateur nach der „Torwart-Methode“ zum Treffen anbietend. Kurz – ein Treffer ist nur etwas, was schon getroffen hat.

Aber davon abgesehen, geht es in der ChiSao-Übung überhaupt nicht um Treffen oder es sollte nicht darum gehen, denn das Ziel ist das Erwerben von Tastsinn.

 

„Ich bin gefährlich: Ich möchte dich nicht verletzen, SiFu!“

Irgendwo im Ausland passierte es: Der Meister wollte mit seinem lokalen Vertreter etwas aus dem Übungsprogramm des Seminars vorführen. Aber dieser wehrte ab, „Bitte nimm lieber einen anderen, denn ich möchte dich nicht verletzen. Und wenn es hart auf hart kommt, werde ich zum Tier und dann kann ich nicht für deine Sicherheit garantieren.

Der Meister war ein Gigant an Kraft und Erfahrung, der sich für gefährlich haltende Schüler war ein Wicht und Aufschneider. Selbstverständlich nahm der Meister den Fehdehandschuh auf und wollte mit seinem an Selbstüberschätzung leidenden Schüler vor die Tür gehen. Ebenso selbstverständlich kniff der Angeber. Es handelte sich übrigens nicht um WingTsun, sondern um ein Waffensystem.

 

Es gibt viel mehr zu fühlen, als der Schüler fühlt!

Ein Schüler will sich mir zu einer höheren Prüfung stellen. Es ging um die Fähigkeit des Tastens. Leider verwechselte er grundsätzlich Reagieren per Tastsinn, also „Fühlen“, mit Reagieren auf optisches Erkennen: Er machte BongSao usw. nicht, weil ihm die Hand herunter gedrückt wurde, sondern weil er etwas auf sich zukommen sah, dessen Angriffswinkel vielleicht zu BongSao führen könnte, falls der Gegner nicht den Kurs ändert, was er jederzeit bewusst oder unbewusst könnte. Kurz, von gutem Tastsinn war er weit entfernt, bildete sich aber ein, ihn zu besitzen*. Ich konnte ihn nicht bestehen lassen, weil ihm alle Voraussetzungen wie Lockerheit, Sensitivität, Balance und Timing fehlten. Aber er wollte es mir nicht glauben, denn er fühlte ja etwas. Aber er konnte nicht glauben, dass es über das hinaus, was er fühlen konnte, noch viel mehr gab, was er nicht fühlen konnte. Von der Fühlfähigkeit, die er nach meiner Auffassung für den angestrebten Grad besitzen sollte, fehlten ihm mindestens 70%. Es ist nun einmal so: Ein Sinn – in diesem Fall der Tastsinn – kann uns immer nur mitteilen, was wir wahrnehmen, aber nicht das, was wir nicht wahrnehmen. Oder noch schärfer formuliert: Der Schüler fühlt nicht, dass er nicht fühlt, was er nicht fühlt.

Es ist wie mit dem sog. blinden Fleck. Wir können zeigen, dass jeder Mensch einen hat. Was wir aber nicht erklären können ist, weshalb wir uns nicht bewusst sind, dass wir nicht sehen. Das Verblüffende ist, dass wir nicht sehen, dass wir nicht sehen. Ebenso ist es mit dem Fühlen: kein Wissenschaftler kann erklären, wieso wir nicht fühlen, dass wir nicht fühlen.

Seit vielen Jahren suche ich immer noch nach einem Experiment, mit dem ich meinem Schüler zeigen kann, dass es noch viel mehr zu tasten gibt, als er tastet.

Später folgen ein paar Selbsttests, wie gut man schon fühlt und ob man zielgerichtet übt.

 

Nicht nachschlagen

Der Schüler kann keine Gedanken lesen und weiß deshalb nicht, was von ihm im ChiSao vom Lehrer erwartet wird. Soll er passiv bleiben? Darf er sich wehren? Darf er gar selbst angreifen oder einen Gegenangriff machen? Zu aller Unsicherheit aufgrund klarer Absprachen kommt noch die Aufgeregtheit und Nervosität des Schülers.

Der Lehrer hat ein bestimmtes Unterrichtsziel im Kopf. Er will dem Schüler z.B. BongSao beibringen, statt aber an seinem BongSao zu arbeiten, greift der Schüler, nachdem er schon getroffen worden ist, seinen Lehrer mit FakSao zum Hals an. So etwas nennt man Nachschlagen. Dass das den Lehrer nicht erfreut, liegt auf der Hand. Ziemlich sicher steigert er jetzt die Geschwindigkeit seines eigenen Angriffes oder macht sogar zwei Angriffe in Folge, um dem Schüler das Nachschlagen ein für alle Mal abzugewöhnen.

Es gibt aber durchaus auch Unterrichtsprogramme, wo es gerade um Nachschlagen geht. In diesem Falle ist es der Lehrer selbst, der den Part des Nachschlagenden übernimmt, nicht weil er gleicher ist als der Schüler, sondern damit der Schüler lernt, dass er, sogar nachdem er schon getroffen hat, immer noch darauf gefasst sein muss, dass der andere zurückschlägt.

 

Dies ist ein weiterer Auszug aus meinem Buch „Kampflogik 3!“, erschienen im EWTO-Verlag Juni 2011, das jetzt in der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage mit nunmehr 441 Seiten wieder verfügbar ist.

 

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht