Editorial

Schwangerschaft, Schach und die Leichtigkeit des Seins

Ja, es ist wahr. Ich bleibe bis 4 Uhr nachts wach, beantworte kaum noch SMS und E-Mails und verhalte mich in Gesellschaft noch autistischer als ohnehin ...

Wer mich kennt, dem verraten diese Symptome: Kernspecht geht schwanger, und zwar mit einem neuen Buch. Alle meine Gedanken kreisen seit langem nur darum und es ist höchste Zeit, dass ich es zur Welt bringe.
Um welches Thema es sich handelt? Welche Frage. Gibt es außer WingTsun – im weitgefassten Sinne – denn noch was?
Irgendwie singt jeder Mensch immer dasselbe Lied oder schreibt am selben Buch. Ich singe selten und wenn, dann nur, wenn ich allein Auto fahre; aber ich schreibe – in Gedanken – ständig an einer völligen Neufassung meines Klassikers „Vom Zweikampf“.
Ich fange immer wieder an mit diesem Buch. Aber nicht von vorne, sondern von hinten, sozusagen teleologisch ... Was will ich am Ende, dass meine Schüler können? Meine Herangehensweise ist aber nicht nur konsequentialistisch, sondern auch minimalistisch. Ich muss mich so fremdwörterlich ausdrücken, denn wie kann ich mich sonst des Ehrenprofessortitels würdig erweisen, den mir noch diesen Monat die renommierte Nationale Sportakademie (BG) verleihen will, wenn sie nicht ihre Meinung über mich ändert.
Meine Grundfrage lautet also immer: Welches sind die unbedingt notwendigen Schritte zum Ziel?
Ich beginne also nicht mit den bislang für richtig und unabänderlich gehaltenen Regeln und Techniken, den Ein- und Zweimann-Formen, sondern mit dem Zweck des Ganzen. Und ich bewerte diese Trainingsmittel nur nach dem Ausmaß, in dem sie unser Ziel (Selbstverteidigungsfähigkeit im Ritualisierten Kampf) fördern.
Auf diese Weise bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass nur 6 Reaktionen (das heißt 3 Reaktionspaare) für jedermann ausreichen, um sich leicht in 99,9% aller Angriffssituationen behaupten zu können, die – und diese Einschränkung ist wichtig – in der typischen Entfernung des Ritualisierten Kampfes entstehen. Welche das sind? Das verrate ich in meinem Buch. Und in jedem Unterricht ...
Will man mich dazu bringen, über diese 6 „Semi-Reflexe“ hinauszugehen, muss man mir überzeugende, d.h. handgreifliche Gründe liefern. Bis dahin weigere ich mich, meinem Repertoire ohne Not weitere Techniken hinzuzufügen, denn in der Gefahr belastet Übergewicht nur.
Mehr ist weniger! Deshalb leeren Profis auch sofort ihre Blase, wenn eine Auseinandersetzung bevorsteht. Unter Stress passiert dies – und Substantielleres – sonst unbewusst und ungewollt.

Ich bin mir schmerzlich bewusst, dass die Kunst des Lesens im Rückzug ist gegenüber Videos, DVDs, CDs oder wie diese neumodischen Dinger heißen, die andere für mich bedienen müssen, weil ich sie von Herzen snobistisch verachte. Deshalb schreib ich an einem Bilderbuch.
Während mein Konzeptbuch von 1987 mit Text und Abbildungen gleichermaßen zu Werke ging, um die Logik hinter dem WingTsun zu zeigen, wie ich sie mir damals erklärte und immer noch nicht widerlegen kann, herrscht in meinem neuen Machwerk im großen DIN A4-Format das anschauliche Bild.
Inzwischen sind bald 20 Jahre vergangen und ich konnte nicht anders als dazuzulernen.
Sehr realistische Fotosequenzen vor dem malerischen Hintergrund italienischer, schweizerischer, österreichischer, bulgarischer und spanischer Ferienlandschaft – meistens mit int. Nationaltrainern und anderen Meistern oder Privatschülern – könnten darüber hinwegtäuschen, dass das Konzept meines neuen Buches sehr zielstrebig ist und in seiner engeren Fassung weit über „Vom Zweikampf“ hinausgeht.
Und das nicht nur, weil ich z.B. die beiden Huen-Sao-Reaktionen als essentiell nötige Reaktionen im frühesten Entstehen des Angriffes erkannt habe. Dazu kommen praktische Einsichten der letzten Jahre, die die Erfahrungen mit „BlitzDefence“ gebracht hatten, wie die im „L'art pour l'art Wing Tsun“ unbeachtete Bedeutung von Intuition, Körpersprache und Händigkeit im Kampf um Leben und Tod.   
Weiterhin die Umsetzung der Ideen der Langstock- und Messerprogramme ins Waffenlose, die Verwendung des „Ein-Fuß-vorne-Standes“ wie beim Langstock, einer viel knapperen Wendung, die oft nur eine kaum wahrnehmbare leichte Gewichtsverlagerung ist. Und nicht zuletzt die denkbar strengste Umsetzung der über die Wahl der Technik herrschenden WingTsun-Konzepte, die dem konsequent danach handelnden Verteidiger den Vorteil über den stärkeren Angreifer gibt.
Davon ist sicherlich das wichtigste, etwas das schon Descartes (bekannt geworden durch „Cogito ergo EWTO“) formulierte, dass man nur entweder die Welt (also den anderen) oder sich selbst verändern könne.
Ich mache in meinem WingTsun aus diesem Gegensatz ein eher komplementäres oder konsekutives Verhältnis: Sich selbst ändern, heißt nämlich den anderen verändern ... Ich drücke mich vom anderen weg, und er hat seine Gefährlichkeit verloren. Ich gebe seiner Kraft mit Bong-Sao nach, und er stellt keine Belastung mehr dar. WingTsun – das ist die Leichtigkeit des Seins.
Wir lieben Vergleiche und sagen, WingTsun sei wie Schach – mit Armen und Beinen. Für mich besteht das Gemeinsame darin, dass beide keine Sportarten sind. Ich vermute, dass man damit ausdrücken will, dass auch im WT die Bewegungen strategisch vorgeplant erscheinen. Im WT ist die Planung aber systemimmanent, will heißen: sie liegt schon im Konzept, der schöpferische Denkvorgang liegt einige hundert Jahre zurück. Auch gibt es im WT auch nicht die klitzekleinste Pause zwischen der Aktion des Gegners und unserer Reaktion. Und eines Denkens zwischen den Zügen (Bewegungen) bedarf es im WT nicht nur nicht; es wäre nachgerade kontraproduktiv, würden sich Bewusstsein und Reflektion lähmend einmischen in die Belange des reagierenden Körpers. Denn wir wissen: Analyse ist Paralyse. Hier liegt zumindestens ein Unterschied zum Schach. WT ist angepasste, perfekt getimte Bewegung.
Und in einer Hinsicht ist WT, so wie ich es sehe und lehre, übrigens auch mit einem anderen Spiel zu vergleichen, mit dem Geschicklichkeitsspiel Mikado: Wer ein anderes Stäbchen bewegt, verliert. So ähnlich müssen die Regeln im Mikado sein, das ich vor 50 Jahren zuletzt spielte.
Meine letzte Partie WingTsun war erst gestern Abend in Bregenz, wo ich zeigen konnte, wie der erste mechanische Impuls dem anderen, wenn der ihn denn 1. wahrnehmen und 2. ohne Zeitverlust ausnutzen kann, den klaren Sieg in die Hand gibt!
Wer mich, wer irgendetwas von mir bewegt (wegdrückt, zieht), und seien es nur Millimeter, gibt mir die Munition für Abwehr bzw. Konter.
Wie das Buch heißen wird?
Der vorläufige Arbeitstitel lautet: „Siege mit 6 Reaktionen!  ... und der Kampf ist vorbei, bevor er begonnen hat“.
 
P.S.: Bitte bestellt das Buch (noch) nicht, weil unsere Mitarbeiter von diesem Projekt, obwohl es schon ziemlich weit gediehen ist, noch nichts wissen und mir dann grollen.