Editorial

UM-DENKEN UND VERZEIHEN

Aus allen Teilen der Welt erreichen mich liebe Briefe und Mails mit den besten Wünschen zum neuen Jahr.

Was treibe ich in den letzten Tagen vor Silvester? Ich lasse das letzte Jahr an mir Revue passieren, überlege, wo ich Fehler gemacht habe, wo ich jemanden falsch behandelt oder in der Hektik des Tages vergessen habe. Da fallen mir manche ein und machen mir ein schlechtes Gewissen, so dass ihnen dieser Gruß besonders gilt.

Ich versuche, mich nicht zu sehr dem Selbstmitleid hinzugeben, da dies eine schädliche, energieraubende Emotion ist, die nichts bringt, nichts verändert, weder die äußeren Umstände noch mein Denken.
Die äußeren Umstände verändern sich nur, wenn man sich verändert, sich, WT-mäßig gesehen, selbst wegdrückt statt den anderen, wenn man auf „andere“ Weise denkt, also um-denkt, was dem griechischen „meta-noia“ der Bibel, meist fälschlich als „büßen“ oder „Buße tun“ übersetzt, entspricht. Wenn ihr denn wollt, habe ich im christlichen Sinne Buße getan, und ich habe meinen Schuldigern verziehen. Allen, von denen ich glaubte, sie hätten mir absichtlich Böses getan, habe ich verziehen, und es hat mir ausgesprochen gut getan. Wer mich näher kennt, weiß vielleicht, dass ich der Meinung bin, dass niemand „absichtlich“ Böses tun kann.

Ich habe mit meinen „Schuldigern“ in Gedanken gesprochen, indem ich ihre Positionen einnahm und ihre Meinungen vertrat. Es stellte sich heraus, dass in der Tat niemand mir schaden, sondern nur sich selbst vor vermeintlichem Schaden schützen wollte, sich nützen wollte oder schlicht gedankenlos war. Da wir alle so beschaffen sind, kann ich damit leben und nehme es nicht länger persönlich.

Diesen Akt des Verzeihens, dem anderen das Minuskonto zu streichen, möchte ich euch allen als tägliche Praxis ans Herz legen, am besten vor dem Einschlafen und nicht erst am Jahresende. Diese Technik ist eine Art geistiger Bong-Sao aus der 3., der geistigen und höchsten Ebene des WingTsun, mit dem man die Last an sich herabgleiten lässt. Sie setzt die Fähigkeit und den Willen voraus, sich in den anderen hineinzuversetzen, aber wenn man es geschafft hat, fühlt man sich selbst erleichtert, als ob einem eine schwere Last von den Schultern genommen sei.
Wer jetzt meint, dass Verzeihen dann ja eher eine Art Seelenhygiene sei und egoistisch, dem muss ich sagen, dass er recht hat! Aber dadurch, dass ihr mit euch selbst wieder im Reinen seid, werdet ihr andere und bessere Menschen sein und könnt den anderen besser begegnen. Insofern nützt dieses Verzeihen allen und es ist so leicht. Versucht es doch einfach mal selbst! Schreibt denen eine SMS, ein E-Mail, denen ihr mechanisch und gedankenlos Unrecht getan habt. Macht es gleich, verschiebt es nicht, denn nichts ist wichtiger! Es wird euch guttun und dem Empfänger auch, und verzeiht denen, mit denen ihr noch eine Rechnung offen zu haben glaubt.

In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein gesundes neues Jahr.

Euer Si-Fu/Si-Gung

Keith R. Kernspecht
10. Meistergrad WingTsun
Gründer, Leiter und Cheftrainer der EWTO