WingTsun

Von der Auflösung der Geschlechter und der Suche nach dem Sein

WingTsun – eine Kampfkunst, die jedem, auch dem „schwächeren“ Geschlecht, Raum lässt, sich effektiv zu verteidigen. Eine weiche, geschmeidige und anpassungsfähige Kampfkunst, in ihrer Anwendung jedoch peitschenartig, gnadenlos, ohne wenn und aber. Ist das alles? Müssen wir uns damit begnügen? In der Tat steckt mehr dahinter!

Wir sind uns bewusst, dass es unzählige Gründe gibt, mit irgendetwas zu beginnen. Jedoch steckt immer die gleiche Motivation dahinter. Und da es sich in diesem Fall um eine Kampfkunst handelt, liegt der Wunsch zur Fähigkeit der Selbstverteidigung wohl erstmal am nächsten. Es stellt sich die Frage: Warum will man sich eigentlich verteidigen? Um sich zu schützen. Sozusagen ein Immunsystem nach außen aufzubauen, das einem hilft, sich potentielle Störenfriede vom Leib zu halten und im schlimmsten Fall das eigene Leben oder das eines anderen zu retten.

Es geht also letzten Endes um den eigenen Tod. Warum?

Alleine die Vorstellung irgendwann vielleicht angegriffen zu werden, treibt uns dazu, mehrmals wöchentlich zu trainieren, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Dieser Ernstfall tritt jedoch in den seltensten Fällen ein ... eigentlich sehr unökonomisch!

Wenn man jedoch die Angst vor einem möglichen Aggressor als Angst vor der eigenen Endlichkeit, sprich dem Tod gleichsetzt, erklärt sich das rege Interesse an Kampfsport/Kampfkunst mehr als deutlich.

Mehr als deutlich ist dann auch, warum viele die Kampfkünste strikt ablehnen: Weil sie sich für die Flucht vor dem Thema entschieden haben. Andere verschieben den Trainingsbeginn ständig auf die nächste Woche.

Ist der größte Gegner, die Endlichkeit des eigenen Daseins, erst einmal erkannt, gilt es einen Weg zu finden, diesen Gegner zu besiegen. Und das sollte für Frau genauso möglich sein wie für Mann.

Um jedoch die geschlechtsspezifischen Unterschiede aufzulösen, reicht die Dualität Frau/Mann nicht aus. Nur über die Trinität Frau-Mann-Kampf kann dies erreicht werden.

Dem Schwächeren ermöglicht WingTsun durch seine Weichheit und Geschmeidigkeit den Zugang zu dem Phänomen Kampf auf eine Art, die gerade Frauen viel leichter fällt. Die technische Seite wird leicht und mit Freude bewältigt, und nach und nach sinkt die Angst vor Schmerzen und Gewalt. Die Psyche wächst. Und sie wächst über die körperliche Ebene hinaus zur strategischen, in der Muskelkraft schon längst nicht mehr ausschlaggebend ist. Es folgt die (Selbst) Erkenntnis: „Ich bin nicht mein Körper. Ich bin nicht mein Geschlecht. Ich besitze einen Körper, und der besitzt ein Geschlecht." Energie, Seele, Chi ... , wie man es auch nennen möchte, bleibt übrig.

Den Starken, der das Körperliche sucht, zwingt WingTsun dazu, seine Kraft aufzugeben, nachzugeben und sich führen zu lassen. Über dieses Muss wächst auch er über die körperliche Ebene hinaus zur geschlechtslosen, strategischen. Diese führt ihn ebenfalls zur Erkenntnis: „Ich bin nicht mein Körper. Ich bin nicht mein Geschlecht. Ich besitze einen Körper, und der besitzt ein Geschlecht."
Zu dieser Erkenntnis führen drei Wege: der königliche durch Überlegung, die harte Schule der Erfahrung und das „blinde" Nachahmen eines anderen.

WingTsun ist ein Vehikel, das alle drei Wege und Ebenen in sich vereint. Der Schüler lernt mit Hilfe seines Körpers und durch Nachahmen seines Lehrers, bis er sich frei von allem gemacht hat und Erkenntnis von nun an seinen Weg bereitet.
Diese Trinität ist unvermeidbar. Die Gewichtung kann jedoch je nach eigener Bereitschaft, im Fluss zu bleiben, stark verschoben werden, so dass der „harte Lehrer Erfahrung" immer seltener um Rat gefragt werden muss.

Corinna Thumm (1. TG WingTsun), Petra Pfaff (1. TG WingTsun)