Editorial

WARNUNG: Wie Aggression entstehen kann

Großmeister Keith R. Kernspecht zeigt anhand alltäglicher Situationen, was in einem Menschen (Mann) vorgeht, dem gleich „der Kragen platzt"?

L. kommt entspannt und wohlig gewärmt mit angespannten Lats aus dem Sonnenstudio. Er hat sein 70er Cadillac Fleetwood Eldorado Hardtop Coupe vor Kratzern sicher in einer Seitenstraße geparkt, schließt es auf, legt genussvoll seine Hände um das Lenkrad und fährt im Bewusstsein der Einzigartigkeit und Kraft seines Wagens sowie seines Fahrers behutsam und langsam durch die enge Fußgängerstraße.

 

Zwei Mädchen, so Ende zwanzig lästern ab: „Der könnte auch etwas schneller fahren, versperrt ja die ganze Straße." Die andere: „Der Dussel hat wohl Angst um seinen schönen Lack." L., der Bewunderung erwartet und Hohn erntet, schwillt sofort die Zornesader, lässt das Fenster runter und pöbelt zu seiner eigenen Überraschung hinter ihnen her: „He ihr beiden, was bildet ihr euch ein! Wollt ihr was auf die Ohren, oder was?" Mit hochgezogenen Schultern und ängstlich angelegten Ohren gehen die beiden Frauen schnell weiter, ohne sich umzugucken. L. registriert dies mit Genugtuung, er tippt noch einmal aufs Gaspedal, und lässt den 8,2 Liter Motor zur nachhaltigen Warnung grollen, bevor er an ihnen vorbeizieht.

Hoppla, denkt L. zwei Kreuzungen weiter, was hat mich so plötzlich aggressiv gemacht? Ich hätte die beiden am liebsten mit der Stoßstange von der Straße geschoben. L. arbeitet seit einigen Jahren an sich, um seine Aggressionen im Zaum zu halten, da sie ihn früher in manch schlimme Situationen brachten. Was war das nun wieder? fragt sich L., der inzwischen gelernt hatte, sich zu beobachten und Abstand zu sich zu gewinnen. Mein Si-Fu hat recht, wenn das Tier sich in mir regt, ist das der beste Augenblick, mich in freier Wildbahn zu beobachten, wenn alles entspannt ist und das wilde Tier in mir schlummert, gibt es nichts zu studieren. Fühlte ich mich als der perfekte Fahrer, der ­ eins mit seinem 6 Meter-Straßenkreuzer ­ auch durch die engsten Straßen navigieren kann, und hat mich die Bemerkung der beiden so aufgebracht, weil mir meine Fahrkünste abgesprochen wurden? Oder was war es, das mich so wütend machte? Mit ihren unnötigen Sprüchen hätten die beiden beinahe eine kleine Katastrophe provoziert und mich zu Handlungen gereizt, zu denen ich normalerweise gar nicht fähig wäre.

Tatsächlich ist L. zwar ein muskelbepackter Hüne, aber studiert, kultiviert und trotz seines Faibles für gigantische Amis überaus zivilisiert. Nie im Leben könnte er eine Frau schlagen. Aber weshalb hat er es ihnen angedroht? Weshalb hätte er ihnen am liebsten mit der Stoßstange Beine gemacht?

Weiter über den Vorfall sinnend, der ihm nach wie vor nicht aus dem Kopf ging, parkt L. sein Dreamcar, um in seinem Stammcafe zur Beruhigung einen Caffelatte nehmen. Die Fußgängerampel zeigt rot, aber kein Auto ist weit und breit in Sicht, also macht er nicht vor dem Gesslerhut halt, sondern überquert zügig die schmale Straße einen Meter seitlich neben dem Zebrastreifen, vor dem drei Passanten gehorsam warten. „Sie sind dem Kind ja ein schönes Vorbild." urteilt streng eine Frau in Begleitung ihres Mannes und eines ca. 9 Jahre alten Jungen. Die schiere Wut schießt L. ob des Tadels in den Kopf, er merkt noch wie sich seine Hände zu Fäusten ballen, das Tier ist wieder erwacht und will sein Opfer: He du klugscheißerische Zicke, hab ich dir gesagt, du sollst ein Kind kriegen? Hab ich gesagt, ich will für deinen Balg ein Vorbild sein? Aber besser, der Junge orientiert sich an mir als an deinem Schlappschwanz von Mann, der dir besser deine große Klappe stopfen sollte, bevor es ein anderer macht! wollte er sagen, aber schluckt es herunter und sagt mit größter Freundlichkeit und ohne jede Ironie in der Stimme: „Danke für die Belehrung", denn er hat vor Augen, wie es weitergehen würde: Der bemitleidenswerte „Schlappschwanz" von Ehemann, zu Hause immer gescholten, weil er vorbeipinkelt und den Mülleimer nicht runterbringt, meint, den Beschützer spielen zu müssen, so dass ich ihm eine verpassen muss und die Straße zum keifenden und jammernden Pandämonium wird und man mich vor den Kadi zerrt, und alles nur, weil typisch deutsche Tugenden wie Rechthaberei und Hilfspolizistentum nun auch keine reinen Männerbastionen mehr sind.

L. denkt in seinem Stammcafé weiter nach. Irgendwie scheinen meine Aggressionen mit der Tatsache zu tun zu haben, dass ich ein großer starker Mann bin und schwache Frauen die Stirn hatten, mich zu kritisieren. Lag es vielleicht daran, dass es Frauen waren? Oder wäre ich genauso wütend gewesen, wenn mich schwächere Männer angemacht hätten? ­ Ja, es wäre das gleiche gewesen, Schwächere dürfen sich gegenüber Stärkeren solche Frechheiten nicht rausnehmen, so ist das Gesetz der Natur. Niemand darf ungestraft den Status quo verletzen, der Schwächere muss den Stärkeren respektieren, zumindest hier draußen auf der Straße. Im Büro mag der kissenpupende bleichgesichtige Leptosom von Bürochef das Sagen haben, aber auf freier Wildbahn interessiert sich keiner für seinen Gehaltszettel oder den Vorzugsparkplatz mit seinem Namensschild. Hier draußen muss er bescheiden zurücktreten, wenn ihm richtige Männer entgegenkommen, die über 150 kg auf der Bank drücken können und 44 cm Oberarme haben. So sind die ungeschriebenen Regeln, die jeder Mensch kennen und einhalten muss, wenn er nicht die Ordnung stören und in seine Schranken gewiesen werden will.

Natürlich hatte die Mutter recht, das ist ihm klar, und er hatte sich falsch verhalten, denn man geht in unserer Republik nicht bei Rot über die Straße, aber er kam gerade vom Urlaub aus London, wo selbst Polizisten nicht einschreiten, wenn man ohne Verkehrsgefährdung bei Rot die Straße überquert. Die sind eben nicht so verkniffen deontologisch und rechthaberisch wie wir Deutschen, sinniert L., der mal ein paar Semester Philosophie studiert hat. Wie würde es mir gefallen, fragte sich L., wenn jeder in meine Lage versetzt, selbst aufgrund der Verkehrslage, entscheidet, ob er die rote Ampel respektiert oder nicht? fragt er sich, unbewusst Kants kategorischen Imperativ anwendend, und er kommt zu dem Schluss, dass er in so einem Land lieber und freier leben würde. Aber die Frau meinte, ihn vorführen zu müssen, vor ihrem Mann und vor ihrem Sohn, und hierin lag seiner Meinung nach ihre Schuld, die unverhältnismäßig größer war als seine, denn die Folgen ihrer Bemerkung hätten in einer Katastrophe enden können: Wäre er einer jener Heldensöhne, Spross einer Kultur der Ehre, dann hätte er ihren Mann ohrfeigen müssen, um die Beleidigung mit Blut abzuwaschen. Aber die Frau hatte genau hingesehen, bei wem sie sich so etwas rausnehmen kann, mit einem Hell‘s Angel hätte sie sich das nicht getraut. Sie hatte die Regeln verletzt, wohl wissend, dass er, Kavalier und zivilisiert genug war, sich nicht an einer Frau zu vergreifen. Dabei hatte es sie nicht gekümmert, in welchem aufgewühlten emotionalen Zustand er sich hinterher ins Auto gesetzt hätte, er wäre möglicherweise so vorgereizt gewesen, dass er bei der kleinsten weiteren Provokation durch aggressives Fahren einen Unfall verursacht hätte. Als L. mir diese Story erzählte, fragte ich ihn, wie es wohl gewesen wäre und wie er reagiert hätte, wenn ein Bär von einem Mann einem anderen Holzfällertypen im karierten Hemd zugeknurrt hätte „Der könnte auch etwas schneller fahren, der Dussel versperrt ja die ganze Straße." Nichts wäre passiert, antwortete mir L. nach längerem Nachdenken, er hätte einen selbstbewussten, aber nicht respektlosen Spruch rübergeschickt, die Hand lässig zum Gruss gehoben, die „Kollegen" breit angegrinst und wäre weitergefahren. Was also war der letzte Grund hinter L‘s Aggression? Dass er sich für überlegen hielt! Das „Gefühl" der Überlegenheit macht aggressiv gegenüber dem Schwächeren, der die seit Jahrmillionen genetisch programmierte Ordnung nicht respektiert und damit Aggression als Reaktion hervorruft. Dieses Aggression, bei Hunden wäre es Knurren, soll dem Schwächeren bedeuten: „Respektiere meine alten Rechte, sonst muss ich dich in deine Schranken verweisen!" Wird dieses Knurren (die kampfvermeiden wollende Aggression) nicht beachtet, dann wird aus der Warnung Gewaltanwendung. Um den einmal unbewusst gestarteten Prozess zu stoppen, haben wir nur ein 0,2 Sekunden Vetorecht. Nehmen wir es nicht wahr, weil wir zu wütend oder betrunken sind, müssen wir zuschlagen. Dass Angst vor Strafe, gesellschaftlicher Ächtung, vor unziemlichem Auffallen oder im seltenen und besten Fall Einsicht und den Wunsch, das Gute zu wollen, die Katastrophe meist verhindern, steht auf einem anderen Blatt. Gerade berichten die Medien, dass ein sich beleidigt fühlender Halbwüchsiger zwei Altersgenossen abgestochen hat, dies zeigt das Gefahrenpotential und unsere tierische Abstammung. Wie ist dem Problem beizukommen? Im Glücksfall dadurch, dass zwei Personen aufeinandertreffen, von denen zumindest eine an sich gearbeitet hat. Entweder der Schwächere, egal ob Mann oder Frau, so dass er sich in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineinversetzen kann. Oder der Stärkere, der bewusst genug ist, nicht mehr immer mechanisch zu reagieren. Hoffen wir, dass er wie L. beim Erkennen seiner Aggressivität, sich an sich erinnert, statt sich zu vergessen! Der Weg dazu ist 1. die Erkenntnis, dass wir nicht besser sind als irgendein anderer, was das Gefühl der Überlegenheit relativiert, 2. die Praxis des sich selbst Beobachtens und dann 3. die Technik der sog. geteilten Aufmerksamkeit, die verhindert, dass man „sich vergisst". Darüber werde ich ein anderes Mal sprechen. Am Ende möchte ich mich bei den Leserinnen für das Niederschreiben einiger scheinbar frauenfeindlicher Gedanken unseres „Helden" entschuldigen, tatsächlich ist er mir gut bekannt und ganz das Gegenteil eines Frauenfeindes. Aber ein Sieger ist er wirklich, denn er hat sich selbst besiegt.

In einem hab ich Big L. korrigiert: Wenn mir einer ins Gesicht schlägt und mich damit körperlich verletzt, dann kann man ihm wohl die Schuld zuweisen. Aber wenn mich einer durch eine Beleidigung verletzt, dann ist das allein meine Schuld, denn ich bin es ja selbst, der aus mehreren Möglichkeiten diejenige gewählt hat, sich beleidigt zu „fühlen". Weder die beiden lästernden Frauen noch die oberlehrerhafte Mutter waren Schuld an seiner Wut, nicht sie haben ihn, sondern er hat sich geärgert, sie haben nur den Impuls gegeben. Er hatte die Freiheit (und sie lobenswerterweise auch genutzt), darauf mechanisch zu reagieren oder die Kraft des Ärgers zu „borgen", um sich an sich zu erinnern.

 

Keith R. Kernspecht