Editorial

Warum können wir nicht loslassen?

„Warum können wir nicht loslassen? Weshalb fällt es uns so schwer, uns zu befreien von Dingen oder Lebensumständen, die uns einengen und unfrei machen?"

Als ich diese E-Mail-Frage meiner Schülerin beantwortete, half mir dies, auch meiner eigenen Schwäche schmerzhaft bewusst zu werden, denn auch ich bin ein Sammler, ein Anhäufer und dies in erster Linie aus Angst.
Denn aus Angst können wir nicht loslassen. Und das führt zur Sucht, nämlich zur Sucht, alles haben zu müssen, was uns helfen kann, angstfrei zu leben und uns das (trügerische) Gefühl geben kann, unsterblich zu sein: Eigentum, Macht, Ansehen.

Je umfangreicher unser Körper ist, sei es durch eine Muskel- oder Fettpanzerung, desto mehr fühlen wir uns in seinem Inneren geschützt. Noch sicherer fühlen wir uns, wenn wir unsere Grenzlinie erweitern, z.B. indem wir unsere Arme wie ein Frühwarnsystem nach vorne schieben, um uns hinter diesem Zaun (engl. fence) besser verteidigen (defence = Verteidigung) zu können.

So blähen und plustern wir uns künstlich auf, indem wir immer weitere Schichten um uns herumlegen. Es kann sich dabei um Besitz handeln wie Häuser, Grundstücke, Möbel. Aber auch mit Autos, Yachten, Privatflugzeugen lässt sich unser Territorium, unser Einflussbereich (Hast du was, bist du was) enorm erweitern, so dass der andere nicht so schnell an uns herankommen kann. Auch Personen, Freunde, Freundinnen, Hunde, Pferde usw. helfen, einen großen unsichtbaren Kreis um uns zu ziehen. Innerhalb dieses Kreises glauben wir uns magisch geschützt, niemand kann uns dort etwas anhaben. Unser Besitz soll uns Sicherheit und Schutz geben.

Aber schon nach kurzer Zeit empfinden wir, dass der Schutzwall noch lange nicht weit genug von uns weg ist, noch immer nicht so stark und hoch ist, wie er sein könnte, und deshalb müssen wir noch mehr Autos, Motorräder, Freunde, Frauen usw. um uns scharen (Mein Haus, mein Auto, meine Yacht, meine Freundin). Die Angst, ungeschützt und angreifbar zu sein, macht uns gierig. Wir umgeben uns mit Bücherregalen, die wir bis unter die Decke mit Büchern vollpropfen. Wenn wir die Gedanken schon nicht selbst gedacht haben, wenn wir sie nicht verinnerlicht haben (und wer hat schon noch eigene Gedanken?), dann wollen wir sie zumindest in ihrer äußeren Form als Buch besitzen. Und jeder Besucher wird in Ehrfurcht erstarren und uns nicht intellektuell angreifen, wenn er sieht, wie belesen und gebildet wir sind.

Aus Angst und in tiefer Erkenntnis der eigenen inneren Wertlosigkeit häufen wir in der Außenwelt Sammlungen und Besitztümer an. Und es ist wohl kein Zufall, dass gerade das starke Geschlecht die größten Sammler stellt:
Frauen, Autos, Motorräder, Uhren, Modelle, Briefmarken, Bierdeckel, seltene Bücher, Reiseziele, Gourmet-Restaurants usw.

Wir fahren in unserem BMW vor und beginnen, uns durch unseren Besitz, mit unserem Haben zu definieren. Wir identifizieren uns mit unserem BMW und unserem Konsum. Wir und unser BMW (oder Mercedes ...) Und wenn jemand nach uns fragt, dann bekommt er zur Antwort: Das ist Peter, der fährt einen BMW.

Irgendwann erwacht der Drang nach Höherem in uns, nach gesellschaftlichem Ansehen, nach akademischer Anerkennung, so dass wir auch diesen befriedigen. Nun haben wir den akademischen Titel, sind Honorarkonsul, Ehrensenator, Vize-Vereinsvorsitzende, Ehrenindianerhäuptling, Ehrenhauptmann der Südstaatenarmee h.c.
Aber es reicht nie, denn in Wirklichkeit geht es nicht um die äußeren Dinge, die sind nur Ersatz für unsere innere Leere, unser tiefes Wissen um unsere Wertlosigkeit.
Wir fühlen uns im Inneren immer noch nicht sicher, denn alles Äußere können wir immer noch verlieren, durch Naturereignisse, Börsencrashs, Verbrechen oder Krankheit spätestens alle durch den Tod.

Dunkel dämmert es in uns, dass es das Wertvollste und Wichtigste ist, eine seelische Stärke zu erlangen, die uns alle Schicksalsschläge ertragen lässt. Dazu müssen wir lernen loszulassen.
Denn nicht nur wir haben den Besitz, er hat uns auch! Und wenn wir uns mit ihm identifizieren, dann werden wir deckungsgleich mit ihm und verschwinden mit und in ihm. Dann existieren wir nicht mehr wirklich, sondern sind unser Besitz.

Wir alle müssen loslassen lernen, bevor das Leben uns dazu zwingt.

 

Keith R. Kernspecht

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.