Editorial

Was hat WingTsun mir gegeben?

Im Gasteditorial dieses Monats schilder Hans-Peter Schnabel wie WingTsun sein Leben beeinflusste.

„Warum wird ausgerechnet meine Arbeit zur Veröffentlichung ausgewählt?“ fragte Hans-Peter Schnabel, als er davon erfuhr, dass ich seine schriftliche Arbeit für den 2. Technikergrad als Gasteditorial für diese WT-Welt online vorgesehen habe.
In vielen meiner monatlichen Editorials schreibe ich über die verschiedenen Ebenen des WingTsun. Manchmal sind meine Aufsätze abstrakt und haben scheinbar nur wenig mit WingTsun zu tun, manchmal lassen sich die direkten Bezüge zu unserer Kampfkunst sehr leicht herstellen. Wer lange WingTsun betreibt, der erkennt dessen Prinzipien in allen Lebensbereichen wieder. Doch wie ich bereits in einem meiner früheren Editorials schrieb: „Verwechseln wir Studium nicht mit der eigentlichen Arbeit!“ Entscheidend ist, was wir von diesen Prinzipien in der Tat in unser Leben einfließen lassen.
Hans-Peter Schnabel schreibt in seiner Arbeit nicht über tiefgründige WingTsun-Philosophien, er beschreibt einfach nur seinen Lebensweg mit WingTsun. Und zeigt auf so anschauliche Weise, was es heißt, die Prinzipien des WingTsun universell umzusetzen, dass wir seine Erkenntnisse mit unseren Lesern teilen wollen.

Keith R. Kernspecht

 

Hans-Peter Schnabel: Was hat WingTsun mir gegeben?

Nachdem ich mir über das Thema kurz Gedanken gemacht hatte, setzte ich mich an meinen Computer und begann zu schreiben. Ein wahrer Gedankensturm überschwemmte mein Gehirn. Bilder aus meiner Kindheit und meiner Jugend entstanden vor meinem geistigen Auge. Längst vergessene Situationen und die damit verbundenen Emotionen wurden noch einmal durchlebt. Kämpfe, Siege, Niederlagen, Schmerzen und die damit einhergehenden psychischen Ausnahmesituationen. Alles durchströmte mein Gehirn. So manche Erinnerung brachte mich zum Lachen, andere wiederum trieben mir die Tränen in die Augen. Es stellten sich mir unendlich viele Fragen.
Warum habe ich damals dies oder das so oder so gemacht? Hatte ich nicht so manchen „Gegner“ im Kampf geschlagen und somit seinem Leben eine neue, vielleicht schlechtere Richtung gegeben? Trugen nicht auch die schlechten Freunde und falschen Vorbilder ein Teil der Schuld? Waren sie es doch, die mir nach einem gewonnenen Kampf auf die Schulter klopften. Suchte ich DEREN Anerkennung oder steckte mehr dahinter? Trieben mich uralte Instinkte, nach denen ich handelte, oder war ich mir meiner Taten bewusst?
Fragen über Fragen. Und nur unbefriedigende Antworten.
Heute denke ich, Sigung hat recht, wenn er sagt: „Jeder Mensch tut, was er tun muss.“ Ich tat, was ich tun musste!
Aber somit stellen sich neue Fragen.
Warum ist es heute anders, warum bin ich heute nicht mehr so? Was habe ich heute oder besser, was hatte ich zuvor nicht? Konnte ich nicht auch vorher schon kämpfen? War mein Selbstbewusstsein so gering, dass ich mich immer wieder aufs neue selbst bestätigen musste? Usw., usw.
Nun könnte man sagen, dass ich jung und unwissend war und meinen Platz im Leben suchte. Aber genügt dies als Rechtfertigung für mein früheres Verhalten?
Ich denke eher nicht! Zumal ich mir immer noch nicht sicher bin, meinen Platz im Leben gefunden zu haben. Trotzdem gehe ich nicht mehr ständig angespannt durchs Leben und explodiere auch nicht mehr bei jeder Kleinigkeit wie Donald Duck. Auch habe ich heute wesentlich mehr Respekt vor dem Leben anderer.
Liegt dies am Alter oder steckt mehr dahinter?

Als kleiner Egoist erzogen und vom Leben dementsprechend bestätigt, interessierten mich früher die anderen recht wenig. Mein ganzes Umfeld war geprägt von „Einzelkämpfern“, jeder dachte nur an sich. So waren es auch immer die Stärksten, die Anerkennung und Gehör fanden. Deren Wort war Gesetz!
Entweder war man Mitläufer oder Ausgestoßener. Selbstkritik war zu dieser Zeit in unserem Wortschatz nicht vorhanden. Ohne mir darüber bewusst zu sein, woran es lag, hatte ich die heftigsten Probleme mit meinen Mitmenschen. Oft genug kam ich mit einem „blauen Auge“ davon. An eine harmonische Partnerschaft z.B. war überhaupt nicht zu denken. So wurde ich immer unzufriedener. Ein langsamer Prozess des Umdenkens setzte ein. Die Meinung sogenannter Alpha-Rüden wurde nicht mehr einfach übernommen, und ich hinterfragte mehr und mehr mein ganzes Verhalten. Ich begann mein Umfeld aufmerksamer wahrzunehmen und erkannte, dass im Grunde genommen alle Menschen in bestimmten Situationen immer nach dem gleichen Schema handeln.
Stress, berufliche Zwänge, finanzielle und familiäre Probleme usw. lassen uns nicht los. Jeder unterliegt diesen Dingen. Die meisten reagieren dementsprechend gleich und berechenbar. Alle reden immer nur von sich und ihren Problemen. So wollte ich nicht enden.
Mir wurde klar: Ich muss dieses Verhaltensmuster durchbrechen und bewusster mein Leben und mein Tun kontrollieren. Mein Freundeskreis hatte sich mittlerweile bis auf wenige Menschen gesundgeschrumpft, und ich musste mir und denen nichts mehr beweisen. Als Mitmensch wurde ich langsam immer erträglicher. In der Folge lernte ich meine heutige Frau kennen und bekam mit ihr meine erste Tochter Romina. Mittlerweile 30 Jahre alt, führte ich ein sogenanntes solides Leben.
Trotzdem kam immer mehr das Gefühl auf, dass mir irgendetwas fehlte. Mein Hobby – Kraftsport – brachte auch keinen Spaß mehr. So schaute ich mich nach neuen Dingen um. Zu der Zeit trainierte mein Schwager Tobias ein „neues Kampfkunstsystem“. Mäßig interessiert ließ ich mich überreden, mir das ganze doch wenigstens einmal anzuschauen. Kämpfen konnte ich ja. Aber wie immer im Leben kam es, wie es kommen musste!
Ich saß bei der Einführung in der ersten Reihe und konnte nicht glauben, was sich vor meinen Augen abspielte. Ein gewisser Sihing Klaus Hennrich zeigte mit ganz kurzen Bewegungen die atemberaubendsten Dinge. Keine hohe Tritte oder irgendwelche blödsinnigen Sprünge, welche auf der Straße eh nicht funktionierten. Stattdessen flogen die Leute nur so durch das Zimmer, ohne dass ich die angewandten Techniken erkennen konnte. Sihing Hennrich zeigte sein Können mit einer unglaublichen Leichtigkeit und Präzision. Alle seine Techniken und „Tricks“ hatten „Hand und Fuß“. Und das alles auf engstem Raum, mit ganz kurzen Bewegungen und ohne Geschrei. WAHNSINN: das musste ich lernen!
Es folgten ca. vier Jahre „hartes“ WT-Training. Während dieser Zeit lernte ich mich und andere besser kennen als in den ganzen Jahren zuvor. Mein Körpergefühl nahm ungeahnte Ausmaße an. Ich fühlte mich, trotz meiner damals noch vorhandenen Muskelpakete, leicht und beweglich wie nie. Neue Tugenden wie Disziplin, Geduld und Respekt, zogen in mein Leben ein. Jedes Training stellte mich vor neue Probleme, zeigte mir jedoch sofort eine passende Lösung.
Keine Technik war eine Einbahnstraße. Für jede Frage gab es eine Antwort. Jeder war bemüht, so viel als möglich zu erlernen und auch weiterzugeben. Das erste Mal erlebte ich, dass nicht jeder nur für sich kämpfte, sondern alle eine Gemeinschaft waren. Nach einiger Zeit war mein ganzes Denken und mein Handeln von WT geprägt. Die WT-Prinzipien flossen immer mehr in mein Leben mit ein. War ich früher steif und starr in meinen Handlungen und Gedanken, so fing ich nun an nachzugeben, wenn es keinen Sinn machte, auf meinem Standpunkt zu beharren. Wusste ich doch mittlerweile: Nachgeben heißt nicht Aufgeben!
Ich merkte, dass es besser war, mit den Augen eine Tür zu suchen als mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Andererseits blieb ich „am Ball“, wo ich früher aufgegeben hätte. Es wurde nun ungemein einfacher, nach neuen Lösungen zu suchen, als vorgefertigte Wege zu gehen, welche zu nichts führten. Somit ersparte ich mir unendlich viel Energie für das Wesentliche. Zeitgleich mit meinem WT-Training stellte mein Arbeitgeber das Arbeitssystem von Einzelakkord auf Gruppenakkord um. Dort konnte ich mein neu erworbenes Wissen und Denken voll einbringen. Probleme konnte ich viel freier und zielgerichteter angehen. Eingebunden in die Arbeitsgruppe wurde meine Meinung immer mehr gefragt und erarbeitete Lösungen akzeptiert bzw. umgesetzt. Mit Vorgesetzten hatte ich immer weniger Probleme, verstand und akzeptierte ich doch mittlerweile auch deren Standpunkte und deren Prämissen.
Durch das WT-Training verschwanden Unsicherheiten und es entwickelte sich so nach und nach ein gesundes Selbstbewusstsein. Freies Reden vor mehreren Leuten wurde zur Selbstverständlichkeit.
Ich lernte über Dinge zu lachen, die mich zu früheren Zeiten sofort auf die Palme brachten. So habe ich viele Situationen „gemeistert“, an denen ich früher mit Sicherheit verzweifelt wäre. Meine ganze Denk- und Verhaltensweise änderte sich. Ich wurde nicht mehr getrieben von innerer Unruhe und Unsicherheit. Sehr viele Lebensweisheiten, die ich bis dato belächelte, habe ich auf mich übertragen und in mein Leben übernommen.
Vom sturen Einzelgänger wurde ich zum Teamplayer. Das Miteinander mit Arbeitskollegen wurde wesentlich menschlicher und es entwickelten sich neue Freundschaften, wodurch mein Leben eine enorme Bereicherung erfuhr. Inzwischen konnte ich sehr gut zwischen falschen und echten Freunden unterscheiden. Keiner drückte mir mehr seine Meinung auf. Kein falscher Freund hielt mich mehr von meinem Weg ab. 
So profitierte auch die ganze Familie von meinem neuen Leben. Ich begann nicht mehr nur zu fordern, sondern war immer mehr bemüht zu geben und zu helfen. Nach ca. vier Jahren musste ich mein WT-Training leider unterbrechen. Erst hatte ich massive Gesundheitsprobleme, dann kauften wir uns ein Haus, welches ich komplett renovieren musste. Das war eine sehr schwere Zeit für mich. Heute bin ich mir sicher, dass ich diese Zeit ohne meine Einstellung, die ich mir durch WT erarbeitet hatte, nicht so durchgestanden hätte. Meine ganze Freizeit und meine ganze Kraft waren über mehrere Jahre gefordert. An WT oder irgend ein anderes Hobby war nicht zu denken. Aber was machte das schon, wusste ich doch: „Alles im Leben hat seine Zeit“ Und meine Zeit war noch nicht vorbei.
So vergingen ca.sieben Jahre ohne WT-Training. Im Jahr 2000 erfuhr ich über Freunde, dass ein gewisser Toni Schmidt in Limburgerhof eine WT-Schule eröffnete. Meine Neugier war geweckt und auch meine Zeit ließ ein regelmäßiges Training wieder zu. So setzte ich mich
mit ihm in Verbindung und vereinbarte ein Probetraining.
Hochmotiviert ging ich mit meiner mittlerweile 11-jährigen Tochter in die Schule, um denen zu „zeigen, wie es geht“. Doch mehr als jemals zuvor erlebte ich eine herbe Enttäuschung. Mein WT war nichts gegen das WT, das ich nun „erlebte“. Sofort war ich mir sicher, ich hatte meinen Lehrer gefunden. Meine Tochter war natürlich auch begeistert, ohne überhaupt im entferntesten zu begreifen, um was es ging. Aber von nun an waren wir so oft als möglich im Training. Mit jeder Stunde WT vertiefte sich unser Wissen. Wir lernten ganz neue Seiten an WT und natürlich auch an uns kennen. Neue Menschen traten in unser Leben und bereicherten es aufs Neue. Die Beziehung zu meiner Tochter bekam eine ganz neue Qualität. Wir führten endlose Gespräche über das Training mit all seinen verschiedenen Facetten. Ebenso konnte ich ihr sehr viele Ratschläge geben im Umgang mit Menschen. Unsere Entwicklung im WT und auch im realen Leben war meines Erachtens enorm.
Eine tiefe Zufriedenheit machte sich in meinem Bewusstsein breit. Wusste ich doch das Beste für mich – und noch viel wichtiger – für meine Tochter zu tun. Niemals kam Langeweile auf. Unsere Gedanken und unsere Taten waren geprägt von WT. Ich konnte im Training meine ganze Lebenserfahrung einbringen und somit zu einem entspannten Lernen beitragen. Alles, was ich in früheren Trainingsstunden erlernt hatte, wurde nun unglaublich verbessert und verfeinert. Neue Impulse zeigten mir neue Wege. Bei jedem Lehrgang und jeder Prüfung die wir ablegten, überkam mich ein so nie gekanntes Gefühl. Ich war unendlich stolz. Ich war ein wichtiger Teil im Leben meiner Tochter. Was kann sich ein Vater mehr wünschen. So durfte ich sie bis zum 12. SG begleiten. Leider holten uns erneut die Zwänge des Lebens ein, und wieder musste ich verletzungsbedingt mein WT-Training für ca. ein Jahr unterbrechen. Meine Tochter lernt zur Zeit auch die „harte“ Seite des Lebens kennen. Der Schulstress lässt seit geraumer Zeit kein WT zu. Aber man muss Prioritäten setzen!
Zum Glück ist meine Tochter – auch dank WT – von ihrer mentalen Seite so stark, dass sie selbst versteht, was im Leben wichtig ist. Ich denke aber, dass sie in absehbarer Zeit das WT-Training wieder aufnehmen kann.
Nachdem Sifu Toni neue Räumlichkeiten eingerichtet hatte, entschloss ich mich, mein Training wieder aufzunehmen. Meine Verletzung war auch schon wieder soweit abgeheilt, dass ein regelmäßiges Training möglich sein sollte. Und wieder erlebe ich alles neu. Ich lerne wieder neue Schüler von Sifu Toni kennen und entdecke neue Freude am Lernen und am Lehren. Alte Weggefährten haben enorme Fortschritte gemacht. Wäre ich früher neidisch gewesen, so sehe ich heute darin für mich die Chance, selbst besser zu werden. Auch bin ich wesentlich toleranter gegenüber ungeduldigen Schülern geworden und kann dadurch selbstsicherer Techniken erklären und vermitteln.
Alle WT-Prinzipien fließen nun endlich in mein Training ein und machen es mir leichter, eigene Fragen und die der Schüler korrekt zu beantworten.
Mein Respekt gegenüber Sifu Toni und den höher graduierten Schülern ist so groß wie nie. Weiß ich doch um die Arbeit, welche hinter dem Können steckt. Meine ganze Entwicklung in der Kampfkunst und im Leben wird dank WT nicht ins Stocken geraten. Ich werde immer mehr zum WT-ler. Ich lerne neue Bewegungen und Techniken, verstehe aber erst jetzt langsam, um was es bei schon lange Gelerntem geht. Meine Bewegungen werden ökonomischer und genauer und mein Körpergefühl wird trotz meines hohen Alters immer besser. Andererseits wird mir mein eigenes „Nichtkönnen“ immer wieder vor Augen geführt und motiviert mich ständig, weiter an mir zu arbeiten. Ich verschwende keine Zeit und Energie mehr für Unwesentliches. Alles wird von WT beeinflusst und gelenkt. Nichts ist mit WT vergleichbar. Ich habe in der ganzen langen Zeit, in der ich mich mit WT beschäftige, keine Nachteile erkennen können und bin glücklich, ein solch geniales Kampf- und Lebenssystem erlernen zu dürfen.
Doch trotz der langen Zeit, in der ich mich nun schon mit WT beschäftige, hatte ich erst vor wenigen Tagen mein schönstes Erlebnis. Es war als mich meine kleine 8-jährige Tochter – Singa – in ihrem ersten WT-Training und nach ihrem ersten „korrekten“ Fauststoß in meinen Bauch mit großen fragenden Augen anschaute. In diesem Moment war ich stolz wie ein Pfau, der gerade sein schönstes Rad geschlagen hatte. Nun weiß ich: das Leben ist keine lange Gerade, sondern vielmehr ein Kreis. Alles wiederholt sich. Und doch ist alles neu.
Erneut sehe ich mich am Anfang, und der Weg beginnt von vorne. Alle Tugenden, die in mir wohnen, werden aufs neue gefordert. So spielt es auch keine Rolle WO ich im Leben stehen, sondern vielmehr WIE.

Die Gegenwart ist das Ergebnis der Vergangenheit, sowie die Zukunft das Ergebnis der Gegenwart ist. WT ist ein großer Bestandteil meiner Gegenwart.
Somit kann ich beruhigt in die Zukunft sehen, denn das Abenteuer WT geht weiter. WT wird weiter unser Leben begleiten und bereichern, und niemals zuvor war ich mir sicherer: Ich bin auf dem richtigen Weg.