Editorial

Weitere Regeln für die ChiSao- bzw. ReakTsun-Etikette

Um unser WT nicht in ein enges Korsett zu pressen, ist es wichtig, im Training auch das ChiSao immer wieder mit verschiedenen Schwerpunkten mit dem Partner zu trainieren.

ChiSao ist nur ein Teil des Ganzen

Es geht nicht nur um Fühlen mit den Händen oder mit den Unterarmen, sondern letztlich um Fühlen mit dem ganzen Körper, auch wenn das traditionelle WingTsun sich fast ausschließlich auf den Unterarmbereich beschränkt. Wer auch gegen Ringer und andere „Grappler“ bestehen will, muss aber weiter denken.

ChiSao mit mehreren Partnern

Um der Komplexität des wirklichen Kampfes Rechnung zu tragen, muss diese Übung in alle Richtungen und zwar im Extremfall gleichzeitig mit bis zu acht Partnern geübt werden. Acht Personen sind die höchste Anzahl von Personen, die einen einzelnen Menschen umzingeln und angreifen können, ohne sich gegenseitig zu behindern.

Die drei Timing-Regeln des ChiSao

Vergessen wir sie nie, diese drei Regeln des WingTsun, die sich aber auch in anderen inneren Systemen finden:

1. Bewegt sich der Gegner nicht, dann bewege ich mich auch nicht. Auch ganz langsame und konstante
    Bewegungen (ohne Beschleunigung) müssen als „keine Bewegung“ gelten und so behandelt werden.
    Vgl. mein Erlebnis mit dem chinesischen Meister auf der folgenden Seite.
2. Will sich der Gegner bewegen, komme ich ihm zuvor und bin schon vorher da.
3. Die dritte wichtige Regel lautet: Wechsle in genau dem Augenblick, in dem der andere seine Bewegung
    verändert.

Drei verschiedene Rollenspiele müssen im ChiSao geübt werden!

1. Rollenspiel:
Mit WT gegen primitiven Krafteinsatz

Das Üben des Nachgebens gegen einen, der mit primitiver Kraft z.B. Ihren Arm nach oben, unten, zur Seite, aber auch nach vorn drückt und schlägt.
Dieses Rollenspiel wird viel zu selten inszeniert, weil jeder inzestuös den klugen und immer nachgebenden WT-Kämpfer spielen will und niemand den „Primitiven“. Umso größer dann im Ernstfall der Schock, wenn der Gegner da draußen in der wahren Welt justament so primitiv ist und – uns damit völlig aus dem schönsten taoistischen Konzept bringt.
In Wirklichkeit müsste dieses Rollenspiel „Gegen primitiven Krafteinsatz“ viel häufiger durchgespielt werden, da es diese Situation ist, die außerhalb der WingTsun-Schule passieren wird. Diese normale Situation, in der der Gegner nicht kooperiert, wird zu selten geübt. Dieselbe Feststellung kann man auch bei anderen klassischen inneren Stilen machen und sogar bei modernen militärischen Nahkampfstilen, die oft auf WingTsun oder WingTsun-ähnlichen Vorlagen (oft aus Vietnam) beruhen: auch hier fast nur unrealistisches gegenseitiges Übertreffen in selbstverliebter Weichheit oder oft sogar nudelartiger Schlaffheit.

2. Rollenspiel:
Mit WT gegen den Holzpuppen-Mann

Die zweite, gerade den weichsten WT-Experten zur Verzweiflung bringende Übung ist das Rollenspiel „WT gegen den starren, unbeweglichen nicht nachgebenden Holzpuppenmann“.
Man könnte meinen, dass der Unterschied zwischen Partner Typ 1 (oben) und diesem Typ 2 nur marginal ist, denn auch Typ 2 muss ja einen Druck ausüben, sonst käme man ja durch.
Manche Experten meinen deshalb, wer mit dem statischen Typ 2 Probleme hat, habe diese nur deshalb, weil er den „langsameren“ Druck nicht so gut erkennt bzw. nicht geschickt genug ist, ihn auszunutzen. Abgesehen davon, dass ein langsamer Druck tatsächlich schwer auszunutzen ist, lehrte mich meine Erfahrung dieses: Unser Gegner Typ 2 (Zombie) übt einen durchaus ausbalancierten Druck aus. Er baut nämlich in seinen Armen und dem Restkörper eine Art isometrischen Druck auf, indem er z.B. Bizeps und Trizeps gleichzeitig anspannt. Wer hier kurz zieht, dem kann er kaum merklich nachgeben und dabei weiter vorgehen. Auch auf einen abrupten Stoß kann er gut reagieren und ihn ausbalanciert verarbeiten.
Ich habe das Anfang der 1980er Jahre gegen einen chinesischen Wing Tsun-Meister aus England, der einer anderen Schule angehörte und behauptete, von Yip Man gelernt und Bruce Lee unterrichtet zu haben, erfolgreich eingesetzt, indem ich wie das unentrinnbare Schicksal langsam und unerbittlich unter ständigem, unverändertem Druck, aber ohne meine Arme groß zu bewegen, vorging und ihn zurückdrängte, bis sein Rückwärtsmarsch an einem Terrassengeländer (in Neckarsteinach) endete, über das ich ihn drapierte, bis er – wie ein Limbotänzer – mit dem Hinterkopf fast den Boden berührte. Ich wiederholte das dreimal mit ihm, ohne dass er irgendetwas an dem Ablauf ändern konnte; denn ihm war nicht bewusst, dass Nichtbewegen (Ruhe) und konstante Geschwindigkeit (aus Newtonscher Sicht) äquivalent und im WingTsun ähnlich behandelt werden müssen. Ich an seiner Stelle hätte meine Provokationsmethode eingesetzt, die auf Vortäuschen eines Impulses und das Ausbeuten der fast zu erwartenden Reaktion beruht.

3. Rollenspiel:
Ich bin noch weicher als du!

Die dritte Übungsvariante braucht man gegenüber WT-Leuten kaum zu erwähnen, üben sie es doch exzessiv oder leider oft ausschließlich. Das Spiel heißt: „Ich bin ein noch nachgiebigerer WT-ler als du.“ Diese Übung ist zwar unerlässlich, um immer feiner fühlen zu lernen, aber es darf nicht auf Kosten der gesamten Unterrichtszeit gehen.
Immer wenn die beiden Übenden grundsätzlich nachgeben (das heißt: nicht sperren; nicht schneller abwehren, als der andere angreift, die Kraft des anderen borgen usw.), dann geht es um diese Übungsvariante: WingTsun gegen WingTsun. Es ist bezeichnend für den Erfolg, den wir mit der Verbreitung des WT in Europa hatten, dass viele unserer Schüler und auch Lehrer bei ernst zu nehmenden Gegnern nur noch an Kämpfer aus dem eigenen Lager denken. Aber tatsächlich ist WingTsun nicht dafür erdacht worden, einen nachgebenden Gegner durch noch mehr und besseres Nachgeben „auszubeuten“. In Wirklichkeit ist WingTsun die Antwort auf den Verrat der Shaolin-Technik durch Chinesen an die Mandschus.

Der Lehrer als Partner muss gelegentlich „random“ (Zufall) spielen, d.h. „zufällig“ nachgeben und „zufällig“ dagegenhalten. Darauf sind ChiSao-Schüler, die noch am Anfang stehen, aber noch nicht vorbereitet, so dass es der Arbeit mit dem Lehrer überlassen bleiben sollte. Der Lehrer sollte, nachdem er alle genannten drei Arten des ChiSao-Übens hinreichend beigebracht hat, dazu übergehen – wie von einem Zufallsgenerator gelenkt – zwischen nachgebend, steif bleiben und dagegen angehen zu wechseln.

Dies ist ein weiterer Auszug aus meinem Buch „Kampflogik 3!“, erschienen im EWTO-Verlag Juni 2011, das jetzt in der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage mit nunmehr 441 Seiten wieder verfügbar ist.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht