Editorial

Chi-Sao im Karate!?

Vor kurzem erhielt ich eine Anfrage betreffend „Chi-Sao im Karate“. Vielleicht sind meine Antworten auch für Euch interessant.

1. Frage:
„Ist Chi-Sao doch keine Erfindung des WingTsun? Ich dachte immer, dies würde nur im WT geübt. Dabei gibt es Pushing Hands als „Kakie“ auch im Goju-Karate-Stil.
2. Frage:
„Warum zeigt Ihr in der EWTO bei Euren Chi-Sao-Demos immer nur so ein Durcheinander, wo man nichts versteht. Bei WC-Demos sieht man eher auch mal was von der Technik.“

Dazu meine Antworten:
Zur ersten Frage:
„Chi-Sao“ (Klebende Arme) nennt sich das „Sensitivitäts“- oder „Kontaktfluss“-Training im chinesischen WingTsun-Kung-Fu (Ving Tsun, Wing Chun).
In den meisten „inneren“ chinesischen Stilen (wie Tai-Chi, Hsing-I, Pakua usw.) gibt es „Fühltraining“ unter anderem Namen und in anderer Art und Weise. Persönlich meine ich, dass eine Art taktil-kinästhetisches Training nachgerade eine der unerlässlichen Bedingungen für innere Stile (so wie ich sie verstehe) ist, da sich nur auf diese Weise die Komplexität reduzieren und das Timing durch die Beziehung der Gliedmaßen zueinander in Raum und Zeit definieren und üben lässt.
Das japanische Goju-Ryu-Karate ist zwar nicht unbedingt ein innerer Stil, aber es hat für mich deutliche „innere Elemente“ und ist der Karate-Stil, der der chinesischen Wurzel am nächsten ist.
Ich habe selbst von 1959 bis 1974 über 15 Jahre Kempo und Karate (Shotokan, Wado und auch Goju) studiert und schätze es sehr, besonders wegen seiner großartigen Körperarbeit! Das taktile Training „Kakie“ lernte ich in England unter dem Namen „Rubbing Arms“ (= „Reibende Arme“) kennen; und diese Bezeichnung trifft zu, wenn man z.B. das schöne Video von Higaonna Sensei und seinem Sohn (http://www.youtube.com/watch?v=armFVxujWjc&feature=related) betrachtet.
Einige meiner besten Schüler, einer hat inzwischen den 6. Meistergrad im WingTsun, sind als hohe Goju-Danträger – mit der ausdrücklichen Erlaubnis ihres großherzigen japanischen Meisters – zu mir gekommen, um mehr über diesen Aspekt zu erfahren.
Auch wenn die Öffentlichkeit – leider – jetzt erst erkennt, dass zumindest der Goju-Stil ein rudimentäres taktil-kinästhetisches Training hat (= Rubbing Arms), dann bedeutet das aber keinesfalls, dass es diese Methode länger besitzt als das viel, viel ältere Kung-Fu. Karate entstand bekanntlich via Okinawa erst aus dem chinesischen Kung-Fu.

Zur zweiten Frage:
Das Erlernen von Chi-Sao durch Videos im Do-it-yourself-Verfahren ist leider gänzlich unmöglich. Deshalb habe ich bisher sogar auf den Versuch verzichtet, „so zu tun als ob“, auch wenn es vielleicht vom kommerziellen Standpunkt lukrativ wäre.
Hunderte oder in meinem Falle tausende von Stunden unter einem kompetenten Lehrer sind nötig, um so „fühlen“ zu lernen, dass der Tastsinn für uns die Entscheidungen fällt, ohne dass unser störendes Bewusstsein beteiligt ist.
Wer auf der Suche nach sichtbaren „Techniken“ ist, ist noch auf dem falschen Weg des Wunschdenkens: Er will im „Chaos des Kampfes“ Sicherheit und Ordnung in fixen („toten“) Arm- und Beinbewegungen finden. Er erwartet „saubere“ Einzelangriffe, die einen Anfang und ein Ende haben, und Angriffe, die zu seinen auswendig eingepaukten Antworten passen. Als ob sich ein Angreifer, der mit einem Schwall von kaum erkennbaren Schlägen auf ihn eindrischt, sich mit seinem Angriff danach richtet, was der Verteidiger an Abwehren gelernt hat…
Im WT – wie auch den anderen „inneren“ Stilen – praktizieren wir deshalb nicht konservierte und vorfabrizierte Techniken, sondern die psychophysischen Prinzipien von Anteperzeption, Adaptation, Manipulation, Separation und Elimination.

Wenn Sie – irgendwann einmal – mehr darüber erfahren wollen, helfe ich Ihnen gerne weiter.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Keith R. Kernspecht
10. Meistergrad WT

3. Dan Karate