WingTsun

Der Vogel kann nicht starten

Die frische Morgenbrise schüttelt den Tau auf den Blättern der Pflanzen im Hof des chinesischen Hauses. Ein alter Mann mit weißem Bart betritt den Hof und atmet tief und bewusst ein. Sanft berühren seine Füße den Boden und das lange Gewand schleift fast über den feinen Sand. Im Hintergrund fegt ein Diener leise und versunken die Halle. Die Sonnenstrahlen scheinen durch die Baumwipfel und werfen hier und da Schatten auf die Mitte des Hofes – der Trainingsfläche des alten Meisters.

Ruhig und mit schulterbreitem Stand steht er da, das Gesicht nach Süden gewandt, die erste Wärme der Sonne auf seinem Gesicht genießend. Seine Atmung fließt, der Geist ist ruhig. Seine Aufmerksamkeit sowohl nach Innen gerichtet als auch nach Außen. Ein paar Vögel zwitschern und begrüßen den Morgen. Die Arme des Meisters heben sich nach vorne und er beginnt seine Übung. Langsame, endlose Bewegungen, spiralförmig und weich und doch von einer von Innen heraus kommenden Kraft. Klar und einfach sind die Bewegungen und doch in ihrer Natur komplex. Der Meister ist eins mit sich und seiner Umwelt. Harmonie.

Ein Vogel löst sich aus einem der Bäume und fliegt eine kleine Runde um den Meister herum. Magisch angezogen von dessen Bewegungen. Und als der Meister seine Hand nach vorne streckt, landet der kleine Vogel in seiner Handfläche. Der Meister bewegt sich weiter, ungestört von seinem kleinen Besucher, der nun Teil der Bewegung des Übenden ist. Der Vogel merkt, dass er sich hier nicht auf einem Baum befindet und will wieder starten. Doch der Meister ist feinfühlig, sehr feinfühlig und jedes Mal, wenn sich der Vogel abstoßen möchte von der Hand, gibt der Meister genau dieser Kraft nach und der Vogel bleibt sitzen, unfähig zu starten. Und so sehr er auch flattert und sich abstößt, die Bewegung des Meisters passt sich dem kleinen Vogel an und er bleibt weiter mit der Hand verbunden, als sei er dort festgeklebt. Der Spatz und der Meister sind eins.

Dann erbarmt sich der Meister des Vogels und lässt ihn ziehen. Laut zwitschernd entschwindet er gen rettenden Baum. Zurücklassend nur den Meister, der sich weiter langsam und sanft bewegt und seine Übungen in aufgehender Sonne vollführt.

So in etwa sieht eine der klassischsten Szenen eines guten Films über Taijiquan aus und in vielen Büchern über Taijiquan wird diese Fähigkeit des Nachgebens der alten Meister gerühmt.

Großmeister Kernspecht nun ließ diese Geschichte in Theorie und Praxis bei seinem Lehrgang Mitte März in Kassel lebendig werden. In seinem steten Bemühen, seinen Schülern ein Bild davon zu geben, was Weichheit bedeutet, erzählte er eben jene Geschichte des Taijiquan-Meisters und des Vogels, um dann gleich darauf auch zur Tat zu schreiten. Dabei ging es ihm darum, dass der WingTsun-Adept die Fähigkeit erlangen möge, sich bereits der kleinsten Veränderung des Drucks oder der Bewegungsrichtung anpassen zu können und daraus seinen Vorteil zu ziehen.

Speziell den Schülerinnen und Schülern, die noch nicht so lange WingTsun trainieren, schien dies unmöglich und mit Zauberei zu tun zu haben.
Die fortgeschritteneren Schülerinnen und Schüler ließen es sich nicht nehmen, sich an diesen Fähigkeiten zu versuchen. In ihrem Scheitern erkannten sie, auf welchem Niveau Großmeister Kernspecht eigentlich arbeitet und konnten so ihren eigenen Maßstab, wie weich man wirklich werden kann, neu justieren.
Bestärkt durch den Großmeister, der auch die höher graduierten Schüler ermutigte, sich den schweren Aufgaben zu stellen, wehte beim Üben ein zarter Hauch des chinesischen Meisters durch die Halle. Und die Sonne tat ihr Übriges.

Text: Frank Aichlseder
Fotos: fotolia; hm