Editorial

Der Wolf im Schafsfell

Vom WingTsun als „Wolf im Schafsfell“ sprach mein spanischer Meister-Schüler Victor Gutierrez kürzlich in seinem Interview – und lieferte mir damit eine willkommene Themenvorlage für dieses Editorial.

Lasst mich etwas ausholen: Manchmal probiere ich mein WingTsun – oder mich? – gegen Anwender anderer Stile aus. Keine Sorge, jetzt beginnt keine Selbstbeweihräucherung, wie tüchtig ich noch mit 62 bin. Heute geht um etwas anderes.
Wenn Ihr mir bei meinen Tests WingTsun gegen Ringen, Boxen usw. zusehen könntet, würden die meisten von Euch meine Bewegungen nicht als WingTsun identifizieren. Warum nicht? Weil es da keinen „IRAS“, keinen „Bong-Sao“, keinen „Tan-Sao“ und auch keine „Kettenfauststöße“ zu sehen gibt. Was man gemeinhin für typisches WingTsun hält scheint zu fehlen. Alles ist sehr schnell vorbei, und wenn überhaupt Bewegungen zu erkennen sind, dann handelt es sich nicht um bekannte WingTsun-Techniken.
Was ich „mache“ sind nämlich gar keine Techniken, sondern „chaotische Zufallsprodukte“, Bewegungen, die „wie von selbst“, nahezu ohne mein Dazutun „entstehen“. Wenn ich so stolz sein will, könnte ich sagen, dass ich diese Bewegungen „er“-funden habe. Dass ich sie im Augenblick des Kampfgeschehens kreiert habe. Aber zugegebenerweise auch nicht ganz alleine, denn mein Gegner hat durch seinen Angriffsdruck oder durch seinen Widerstand auch seinen Teil dazugetan: den Impuls!
Wie sehr manche sich nach so einem Erlebnis als „Schöpfer“ vorkommen, zeigt der beliebte, aber falschverstandene und meist eitle Ausdruck „Kampfkünstler“.
Habe ich die passende Bewegung vielleicht gar nicht er-funden, sondern nur „ge“-funden? Er-finden kann man nur etwas, was vorher nicht da war. Und kann ich mit Sicherheit wissen, ob nicht irgendeiner meiner asiatischen „Vorfahren“ die zufällig entstandenen Bewegungen vor mir er- oder (auch nur) ge-funden hat?
Um mein überbordendes Ego möglichst wenig zu nähren, entscheide ich mich dafür, mich weniger als Schöpfer, sondern – mich bescheiden gebend – mehr als „Ent“-decker fühlen zu wollen. Denn wirklich aus dem Nichts habe ich meine Bewegungen nicht erschaffen, sie sind entstanden aus Vorhandenem: aus dem, was man als WT-Prinzipien oder -Konzept bezeichnet. Ich nenne sie „Bewegungen des Augenblicks". Einige dieser (hoffentlich noch lange) namenlosen Zufallsprodukte, die auf meinem letzten Italien-Training im Juli entstanden, könnt Ihr in der Galerie finden.

Wie fast alles kann man auch WingTsun in mehrere Klassen einteilen, und zwar je nachdem wie tief jemand in dieser Materie zum Kern durchgedrungen ist.

1. Exoterisches (oberflächliches) WingTsun
betreibt, wer in Kriterien wie „Techniken“ und „Kombinationen“ denkt, wer mit seinen Freunden darüber streitet, welcher Fauststoß wohl der beste sei oder ob der Daumen beim Fook-Sao neben oder über dem Zeigefinger liegt und wie viel Grad eine Wendung haben soll, wie viel Prozent des Körpergewichts auf dem vorderen Fuß ruhen darf.
Wer in der exoterischen Entwicklungsstufe ist, für den hat es große Wichtigkeit, ob eine „Technik“ (sic!) authentisch und traditionell ist. Und das ist gut so und soll so sein, denn der erste Schritt des Lernens ist das Imitieren, das möglichst genaue Nachmachen.
„Mach es genau wie ich“ sagt der Lehrer zu seinem Schüler, der sich in dieser Stufe der Entwicklung (Schüler- und Technikergrade) befindet.

2. Mesoterisches (intermediäres) WingTsun
betreibt der WT-Praktiker, der schon ein ganzes Stück tiefer eingedrungen ist, so dass für ihn ein Fauststoß nur noch ein Fauststoß und ein Bong-Sao kein steifer im Winkel von 135 Grad künstlich gebeugter Arm mehr ist, sondern ein Prozess, d.h. etwas, das wird und vergeht.
Trotz des qualitativ großen Abstandes zwischen der exoterischen und der mesoterischen Stufe haben wir es auch bei diesem WingTsun immer noch mit einem „Stil“ zu tun. Aber nicht dem WingTsun-Stil an sich, denn WingTsun soll kein Stil sein, sondern mit dem Stil des jeweiligen Lehrers. Denn auch hier versucht man, sich möglichst so wie sein Vorbild zu bewegen und die „Handschrift“ des Lehrmeisters ist noch überall zu erkennen.
„Wähle aus dem Angebotenen die für Dich am besten passende Lösung“ sagt der Lehrer zu seinem Meister-Schüler.
 
3. Esoterisches (inneres) WingTsun,
die höchste zu erreichende Stufe, kann man es nennen, wenn ein Großmeister das taoistische Konzept so sehr verinnerlicht hat, dass jede seiner Bewegungen WingTsun ist; auch dann, wenn er mit Kampfkunstkollegen herumalbert und z.B. typische Karate-Techniken ausführt.
Selbst wenn er sich spaßeshalber oder zur Tarnung Techniken fremder Stile bedient, sie aber entsprechend dem WingTsun-Konzept einsetzt und ausführt, kann man das Endprodukt WingTsun nennen, denn der Ausführende selbst ist zu WingTsun geworden. In allem, was er tut, erkennt man den Geist des WingTsun.
Da WingTsun – zumindest in seiner höchsten Ausprägung – formlos ist, kann es sich – wie Wasser – allem anpassen. In dieser dritten Stufe, der esoterischen, ist WingTsun kein Stil mehr, der Großmeister hat sich davon freigemacht, sich so bewegen zu müssen, wie es sein Lehrer tat. Er bewegt sich entsprechend dem Konzept, dem auch sein Lehrer folgt. Und er interpretiert es seinem eigenen Wesen und seinem eigenen Verständnis nach. Wenn seine Meisterschüler selbst die Schwelle zum Großmeister überschritten haben, wird er nicht verlangen, dass sie sich wie seine Klone bewegen, sondern er wird auch ihnen die Freiheit zur Selbstentwicklung zubilligen, die er für sich in Anspruch nahm, um zu werden, was er ist. „Tue nicht, was ich mache, sondern versuche zu finden, wonach ich suche“ sollte der alte Großmeister denen sagen, die ihm nachfolgen ...
 
Alles, was ein WingTsun-Großmeister der letzten Stufe macht, wird zu WingTsun, „indem“ er es macht. Im Gegensatz dazu handelt es sich nicht um WingTsun, wenn etwa ein Ju-Jitsu-Wettkämpfer oder anderer Stilist seinen Gegner mit WingTsun-Kettenfauststößen oder einer aus einem Bruce Lee-Buch einstudierten „Foon-Sao“-Technik angreift.
Wieso nicht? Weil WingTsun per Definition eben nicht aus „Techniken“ besteht, sondern aus einem Konzept bzw. aus „Formeln“. Wer eine „WT-Technik“ wie eine Rosine aus dem WingTsun-Kuchen stiehlt, macht damit noch lange kein WingTsun, sondern nur eine „tote“ WingTsun-Bewegung. Wir nennen sie „tot“, weil in ihr nicht der Geist des WingTsun atmet, sie ist nicht von selbst entstanden, nicht aus dem Prinzip geboren, nicht das Ausnutzen eines fremden Impulses, sondern jemand „wollte sie machen“. Man erkennt die angestrengte Absicht und ist verstimmt, denn Wu Wei, Absichtslosigkeit und Leichtigkeit darf man vom Großmeister erwarten.
Es ist für die Anerkennung als WingTsun nicht entscheidend, „was für eine“ Bewegung jemand macht, sondern „aus welchen Gründen“ er sie macht. Etwas, was wie Bong-Sao „aussieht“, aber „aus den falschen Gründen aktiv“ gewählt wird, ist mitnichten WingTsun.
Stattdessen kann sich ein WingTsun-Großmeister – wenn es ihm denn angebracht erscheint und es sich so ergibt – durchaus einer fremden Bewegung bedienen, und das Ganze kann weiterhin die Bezeichnung WingTsun verdienen.
Nichts anderes ist gemeint, wenn mein Si-Fu WingTsun mit einem „Wolf im Schafsfell“ vergleicht, wobei – wie ich hinzufügen möchte – es sich nicht um ein Schaf handeln muss, „jedes“ Fell, das den WingTsun-Wolf oberflächlich tarnen kann, ist geeignet.
WingTsun war ein Geheimstil, eine unsichtbare Waffe ist es immer noch. Wenn ich mich verteidige, möchte ich nur die konkrete Gefahr beseitigen. Ich lege keinen Wert darauf, dass mein Angreifer weiß, dass ich ihn mittels eines bestimmten Kampfsystems kampfunfähig gemacht habe. Soll er doch denken, er sei durch eigene Schuld gestolpert und zu Fall gekommen. Muss ich ohne Not seine Rachlust erwecken? Kann ich wollen, dass er aufrüstet und nächstes Mal mit seinen Kumpels, einem Messer oder einer Schusswaffe kommt? Solche praktischen Überlegungen mögen zur Idee unseres WingTsun als eines Wolfes im Schafsfell geführt haben.
In meinem nächsten Editorial lasse ich mich interviewen zu einem heißen Thema: dem Stellenwert von Solo- und Partnerformen im WingTsun.