Editorial

Es

Mein Freund Bill, der Escrima-Großmeister, nennt es in Ermangelung eines anderen Wortes Er. Er übernimmt das Gewinnen für Bill, der nur noch zuschaut. Ich nenne es Es ...

Wie bin ich zu meinem Es gekommen?
Wie die Mutter zum Kinde, glaube ich. Etwas hat irgendetwas in mir berührt und es befruchtet: ein Wort, eine Idee, ein Bild, eine Bewegung. Und es hat sich ein kleiner Keim gebildet, der unmerklich wuchs und wuchs.

Es muss sich von den Großen Sieben genährt haben: den Übungen für Bewusstsein, Lockerheit, Körpereinheit, Balance, Sensitivität, Timing und Entschlossenheit.
Alle detaillierten technischen Übungen dienen nur als Material, um es spielerisch hervorzubringen. Spielerisch meint hier, dass es nicht als gezieltes Resultat planmäßig angesteuert und realisiert werden kann. Es ist ein bisschen wie bei der Werbung: Man muss Anstrengungen und Zeit in die verschiedensten Dinge investieren. Und wenn der Erfolg da ist, können wir nicht mit dem Finger auf die direkte Ursache zeigen.

Bei mir war es plötzlich da. Ich hatte vorher wochenlang mit neuen Ideen experimentiert, um die Großen Sieben für jeden meiner Schüler erreichbar zu machen, immer auf der Suche nach wirksameren, gezielteren Alternativen zu den traditionellen Übungen dafür – und fast wie im Fieber – über taoistische Ideen meditiert, die ich mit unseren abendländischen, also griechischen, kontrastierte, um sie besser zu verstehen. Nachts war ich oft bis zu 20mal kurz aufgewacht, um das Gedachte aufzuschreiben und dann weiterzuschlafen.

Und eines Morgens beim Lehrgang war es da und verließ mich nicht mehr. Stattdessen wurde es täglich klarer und stärker, so dass ich oft glaubte, es müsse mir das Herz zum Platzen bringen, so übervoll war es.
Hatte ich vorher Kraft gebraucht, um zu siegen, so reicht nun die Schwere meiner fallenden Hand.
Wo ich noch Tage vorher zu Schnelligkeit und List greifen musste, um mich gegenüber meinen jüngeren Meisterschülern überlegen zeigen und fühlen zu können, kann ich mir seitdem jede Zeit der Welt leisten und wie Wasser in die offenbarte Lücke fließen.
Während es vorher ein – immer mehr zusammenschrumpfender – Vorsprung an Wissen und Routine war, der mir half, meine Position zu bewahren, bin ich nun jedem Vergleich entrückt: Ich nehme alles in Zeitlupe wahr und überall gibt es für mich Gelegenheiten, um mühelos hineinzuschlüpfen.

Wie lange es gedauert hat, bis ich es endlich bekam? Dieser strapaziöse Prozess von stümperhaftem Hacken von künstlichen „Techniken“, dem unermüdlichen Wiederkäuen von nur allmählich natürlicher sich anfühlenden Bewegungen? Dem zunächst rein verstandesmäßigen Aneignen taoistischer Ideen und WingTsun-Prinzipien?
Viele, viele Jahre, Jahrzehnte ...
Und ich bin irgendwie froh, dass es nicht schneller ging, denn mein Ego hätte mit der dann wie ein unerwarteter Lottogewinn auftauchenden Überlegenheit nicht umgehen können.
Jahrzehntelang – trotz bestmöglichem und persönlichem Unterricht – war der Fortschritt auf das technische Gebiet beschränkt, es ging über ein mehr Wissen als andere kaum hinaus.

Dann – als Ergebnis des langen Reifeprozesses im Verborgenen – ein nicht mehr zu hoffen gewagter plötzlicher Riesensprung!
Seitdem weiß ich: Man kann hingebungsvoll seine Solo- und Partnerformen üben, auf einem Bein stehen und „reverse“ atmen oder Bewegungsfolgen seiner Altvorderen rezitieren. Stundenlang kann man gegen Holzpuppenarme schlagen oder im Chi-Sao Harmonie suchen, bis man in Trance gerät.
Alles vergeblich.
Zumindest dann, wenn man auf die ganz schnelle Wirkung schielt.
Und damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich meine nicht bloße Verteidigungsfähigkeit, die stellt sich schon sehr schnell ein! Wir sprechen hier von müheloser Wirksamkeit, einer Effizienz, die wie von selbst auf uns zukommt und die uns den Sieg wie eine überreife Frucht in die Hände fallen lässt.

Wirklich „vergeblich“ sind all diese Anstrengungen allerdings nicht, denn sie entwickeln die Großen Sieben. Und das zwangsläufig, aber nur wenn man ihnen denn Zeit zum Reifen gibt.
Menzius warnt uns mit dieser Geschichte: Ein Bauer aus Sung kommt müde, aber zufrieden vom Felde und berichtet stolz seinen Kindern, wie hart er gearbeitet hat: „Ich habe alle meine Sprösslinge auf dem Feld hochgezogen!“ Als seine Kinder sich den Erfolg der Wachstumsförderung ihres Vaters ansehen wollen, finden sie die fast vertrockneten Sprösslinge.

Hüten wir uns davor, diesen ganz natürlichen Entwicklungsprozess im WT mystisch verstehen zu wollen. Er ist es ebenso wenig wie das Satori oder die sog. Erleuchtung.
Für Buddhisten ist der schon ein Erleuchteter, der dem Fluss des Lebens keinen Widerstand leistet, sondern sich mit ihm bewegt.

Wer solchen natürlichen und unausbleiblichen Folgen von fleißigen Hausarbeiten verbrämte Etiketten wie mystisch gibt, stellt sie auf einen so hohen Sockel, dass er sich nach Art der sich selbsterfüllenden Prophezeiung selbst daran hindert, sie jemals zu erreichen.

Sie wissen nun was es ist?
Es – (zhi) – ist ein chinesisches Nicht-Wort, das ein Objekt ersetzt, ohne es zu sein und dabei meistens anspielt auf den chinesischsten aller Begriffe, auf das tao, den Weg. Aber auch wir Europäer sagen – wenn auch auf vielleicht einer anderen Ebene: Es klappt, es sitzt ... wenn uns eine Bewegung in Fleisch und Blut übergegangen ist, so dass wir immer auf sie wie auf ein Ur-Reservoir zurückgreifen können.