Editorial

Formen oder Tänze

Auf dem 1. Leadership-Kongress am 21. Mai wurde den Schulleitern bereits mein umfassendes Buchprojekt vorgestellt und sie konnten sich erste Fotos daraus ansehen. Die Arbeiten an den ersten beiden Bänden gehen in die heiße Phase. Um die Wartezeit bis zum Herbst zu verkürzen, veröffentliche ich vorab schon in den nächsten Editorials ein paar kleine Vorgucker aus meinem Buch, das unter dem Arbeitstitel „Kampflogik“ im Herbst 2010 erscheinen soll. Dieses Editorial befasst sich mit dem Thema „Formen oder Tänze“.

Eine Form ist eine feste Sequenz choreographierter Bewegungen, die einen mehr oder weniger großen Bezug zum praktischen Kampf oder die Vorbereitung dazu beinhalten. Es gibt Soloformen für einen Übenden und Partnerformen für zwei Übende.
Formen (im Chinesischen „Kuen“ oder „TauLu“, im Japanischen „Kata“, im Koreanischen „Hyong“, auf Indonesisch „Langkas“ oder „Djurus“) waren und sind immer noch der wichtigste Bestandteil und oft der überwiegende oder einzige Inhalt des Unterrichtes asiatischer Kampfkünste. Fürs japanische Shotokan-Karate hat erst Gichin Funakoshi aus den langen Formen einfache kurze Übungsteile („Kihon“) geschaffen.
Was die Formen im WingTsun betrifft, so gab es ursprünglich nur drei Soloformen und eine weitere Soloform, an der der Übende an einer unbeweglichen Holzpuppe genau festgelegte Abwehren und Angriffe mit Armen und Beinen trainiert.
Nur bei der festgelegten Übungsfolge an der Holzpuppe („MukYanChongFat“) stellt sich der Trainierende konkret vor, wie er mit einem Gegner kämpft. Bei den anderen WingTsun-Soloformen soll man diese Vorstellung nicht haben, weil man den Anwendungsbereich der Bewegungen und die Kreativität des Anwenders sonst zu sehr begrenzt. Deshalb ist auch die Frage des Schülers verpönt, was eine bestimmte Bewegung bedeutet und wie sie im Ernstfall anzuwenden ist.
Dazu kommt, dass es sich nicht bei allen Bewegungen um Abwehren und Angriffe handelt, sondern um eine Art Körperschule, bei der man seinen Körper, dessen Abmessungen und dessen Bewegungsmöglichkeiten kennen lernt. Ebenso erlernt man auch Bewegungen, die Gleichgewicht, Beweglichkeit, Körpereinheit, Koordination, Tastsinn und Timing schulen. Man erfährt, dass man seine Arme vor dem Körper bewegt, wie man die sog. Zentrallinie bewahrt und Energie in seine Angriffe projiziert.
Jede Form im WingTsun hat ihre spezifische Aufgabe und Besonderheit: Während der Anfänger z.B. in der fundamentalen 1. Form („SiuNimTau“) vor allem die Arme bewegt und den Körper gar nicht, bewegt man in der letzten zu erlernenden (waffenlosen) Form an der Holzpuppe den Körper viel und die Arme weniger.
Sieht der Meister seinem Schüler bei der Form zu, kann er neben der präzisen Ausführung, u.a. den Rhythmus, die Dynamik und den Ausdruck des Willens bewerten.
Die Formen sind den Prinzipien untergeordnet und sind aus ihnen entstanden. Sie sollen den Schülern als Beispiele für ökonomisches und ausbalanciertes und koordiniertes Bewegen zur Modellbildung dienen.
Mittels der Form-Bewegungen soll man die Prinzipien üben. Es geht nicht darum, dass man im Ernstfall des Kampfes exakt dieselben Bewegungen wie in der Form anwendet, stattdessen soll man die Prinzipien, die in der Bewegung verkörpert sind, auf die jeweilige Situation anpassen.

Euer SiFu/SiGung

Keith R. Kernspecht