Editorial

Nichts tun, damit alles getan wird

Großmeister Kernspechts Editorial aus der neuen WT-Welt Nr. 32, die ab sofort erhältlich ist.

Der am schwersten zu verstehende und deshalb am häufigsten missverstandene Teil der taoistischen Strategie der Nichtstrategie ist das „Nicht-Handeln“.
Viele meinen, dass es sich dabei um eine Art des Sichergebens in sein Schicksal handelt. Diese Ansicht ist falsch!
Das, was sonst aufgrund unserer Vorbereitungen und vorherigen Einschätzungen im Vorfeld, von selbst geschehen würde, nicht zu behindern, darum geht es.
Statt durch blinden Aktionismus das Erwartete zu stören, gilt es, möglichst wenig zu tun und immer weniger.
„Nichts tun und nichts wird nicht getan“, heißt das Paradoxon. 
Dieses kleine unscheinbare „und“ hat es in sich. Es deutet darauf hin, dass die zwei scheinbaren Gegensätze „nichts tun“ und „alles tun“ im Taoismus aufgehoben sind. Nichthandeln und sein Gegenteil, das Handeln, sind beide möglich. Nur möglichst wenig zu tun bewirkt das beste Resultat. Dann kann man, wie man im Angelsächsischen sagt, „seinen Kuchen behalten und ihn essen“.
Um jemand zu schlagen, muss ich zuerst den Arm des anderen loslassen, so dass er den losgelassenen Arm benutzen kann, um meinen Angriff zu verhindern.
Wer hält, wird gehalten. Das erfährt der WT-Anfänger schon früh. Wer den anderen (zu sehr) kontrollieren will, wird dadurch auch vom anderen kontrolliert.
Sobald man nämlich etwas tut, betritt auch sofort das die Bühne, was man nicht getan, was man unterlassen hat.
Schließt man im WT eine der beiden gegenüberliegenden Türen, öffnet man damit automatisch die andere. Sobald man das eine tut, ruft man das andere, das man nicht tut, auf den Plan. Um etwas festzuhalten, muss man zunächst etwas anderes loslassen. Indem man etwas gewinnt, verliert man etwas anderes. Alles was man aktiv tut, arbeitet durch Erzeugen seines Gegenteils dem entgegen, das man beabsichtigt.
Nur indem man buchstäblich nichts tut, gibt es – nach paradoxer chinesischer Kampfkunst-Philosophie – nichts Ungetanes und nichts, was das Beabsichtigte vereitelt.
Das Nicht-Tun tun, das ist es, was uns die Nicht-Strategie des WT lehrt.
Im WingTsun geht es darum, zwar die Impulse des anderen zu erkennen und auszunutzen, aber ihm selbst keine verwertbaren zu geben. Das erreicht man, indem man möglichst keine  Informationen, und wenn nur indirekte, übermittelt. Während  direkte Impulse durch Armbewegungen, Stoßen oder Ziehen, übertragen werden, geben Ganzkörperbewegungen (wie Sinken) nur indirekte und damit kaum verwertbare Daten. Der Gegner erhält keine irgendwie greifbare Vorlage, auf die er reagieren könnte. Unsere Handlungen sind weniger Handlungen als unterstützte Entwicklungen. Dies ist es, was man im WT „Handeln ohne Handlung“ nennen könnte: Wir strömen wie Wasser auf ihn herab, weil er einfach unter unserem Niveau ist. Ohne Tun zu tun, das heißt den natürlichen Prozess zu begleiten und wenn nötig, zu unterstützen, indem man störende Hindernisse aus dem Weg räumt, indem man dem Werden beim Wachsen nachhilft wie dem Schwung einer Schaukel. Je früher wir den Prozess unmerklich begleiten, desto besser können wir ihm an den richtigen Stellen unter die Arme greifen, wenn das Tempo erlahmt. Deshalb müssen unsere Bewegungen weich und rund sein, nicht hart und kantig.
So rund und weich wie die einer Schlange oder wie die eines chinesischen (!) Drachen. Der anpassungsfähige, geschmeidige, schlangenähnliche Körper des chinesischen Drachen hat keine feste Form. Er beinhaltet alle Richtungen. Er zieht sich zusammen und dehnt sich aus. Er geht vor und zurück, er verbindet sich mit den Wolken und ist kaum zu erkennen. Sich wie der grenzenlos wendige Drache zu bewegen, heißt für die Strategie, seine Energie nicht auf einzelne bestimmte Aktionen zu verschwenden, sondern das Werden der Dinge zu begleiten und sich der Erneuerung, der Veränderung, des Umkippens zu bedienen und sich dadurch ständig zu entwickeln.
Man muss eins werden mit dem unberechenbaren Lauf des Geschehens, man muss sich der ständigen Veränderung der Situation durch eigene Veränderung immer wieder anpassen. Was nicht nur geistige, sondern im WT auch körperliche Flexibilität erfordert. Wer hier eine feste Form mit Ecken und Kanten hat, wer mit einer vorgefertigten Meinung oder einem Plan antritt, hat ebenso wenig Chancen wie einer, der selbst agieren will. Wer sich frei von Absicht  mit dem Geschehen verbinden (ChiSao) will, muss jeden Gedanken an Aktion (Yang) zugunsten der Reaktion (Yin) aufgeben.
Agieren (Anfangen) ist nur unter Anfängern die beste Strategie! Für Fortgeschrittene und für den Nahkampf – bei vorherigem Kontakt – gilt, dass derjenige, der sich zuerst bewegen will, ein Risiko eingeht. Er muss sich outen, indem er eine feste Form einnimmt und mehr oder weniger deutlich eine Tendenz angibt, der wir  folgen und die wir zu unserem Vorteil nutzen können. Während er sich verausgabt, um die Veränderung gewaltmäßig in Gang zu bringen, begleiten wir nur den von ihm eingeleiteten Prozess, was kaum Energie erfordert.
Der Agierende muss eine Menge Energie in seine Angriffseröffnung investieren. Diese Energie hilft dem Reagierenden aber noch viel mehr und er kann sie ohne Reibungsverluste auf den Agierenden zurücklenken, der sich kaum davor schützen kann, da es sich ja um seine eigene Aktion handelt!
Der Angreifer muss sich einen Plan machen, eine Absicht fassen und sie dann durchsetzen, was zwangsläufig nicht nur zur Verhärtung führt, sondern auch viel Energie und Vorbereitungszeit (wenn auch unbewusste) erfordert. Der Verteidigende ist immer schneller in seiner sich anpassenden Reaktion, denn er braucht keinen Plan zu fassen, er reagiert einfach auf das, was kommt und sich ihm „eröffnet“. Aufgrund seiner geistigen und körperlichen Vorbereitung ist der Reagierende sensitiv genug, mit allen Manifestationen, die sich ergeben, fertig zu werden.
Dagegen spricht man in der Strategie des Managements vom „First Mover Advantage“, also vom Vorteil für den, der sich zuerst bewegt und hat damit – auch – Recht; denn zweifellos hat der, der sich als Erster einen Markt erschließt, einen schwer einholbaren Vorteil. Der Internet-Buchversand Amazon war der erste Anbieter auf seinem Gebiet. Obwohl es inzwischen andere tüchtige Mitbewerber gibt, kommen diese über eine Nebenrolle als „Me-Toos“ („Ich auchs“), also Nachahmer, kaum hinaus. 
Im WT verstehen wir unter Verteidigung und Reagieren aber kein „Hinterher gegen“, sondern ein „Gleichzeitig mit“, aber angeschoben vom  „First Mover“, dessen Energie wir gerne ausnutzen.

Keith R. Kernspecht

 

Das Editorial von Großmeister Kernspecht und viele weitere interessante Beiträge auf 128 Seiten sind in der aktuellen WT-Welt Nr. 32 zu lesen, die ab sofort über den EWTO-Versand bestellt werden kann.