Editorial

Timing – Teil 2: Timing schlägt Schnelligkeit

In diesem Editorial folgt der zweite Artikel zum Thema „Timing“ als Vorabdruck aus meinem nächsten Buch.

„Timing ist die Fähigkeit, eine gebotene Chance zu ergreifen.“
Bruce Lee

Timing schlägt Schnelligkeit

Wissenschaftlich exakt definieren können die meisten Kämpfer es nicht, aber ihnen ist irgendwie klar, was mit „Timing“ gemeint ist.

Bruce Lee nannte es „die Fähigkeit, eine gebotene Chance zu ergreifen“.

Timing ist die (fast aristotelische) Forderung, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein, um das richtige Ziel mit der richtigen Waffe, der richtigen Geschwindigkeit und der richtig dosierten Energie zu treffen.

Wenn unser Timing stimmt, dann erkennt man es an seiner Wirkung. Es erscheint dem Opfer und dem Zuschauer wie ein Wunder: Der Gegner wird aus dem Nichts getroffen. Er wird meterweit weggestoßen, aber uns merkt man keine Anstrengung an, alles ging wie von selbst!

Wenn der andere sich in Gang setzt, bin ich schon da und schneide ihm alle Wege ab. Wenn der andere sich bewegt, komme ich ihm zuvor!

 

Alter, Schnelligkeit und Körperkraft verlieren ihre Bedeutung

Ein Timing-Experte kann den Gegner besiegen, selbst wenn er nur halb so schnell wie der andere ist. Timing schlägt Schnelligkeit fast jedes Mal.

Schnelligkeit ist eine schöne Sache, aber sie ist kein entscheidender Faktor im WT. Darf es auch nicht sein, denn sonst wäre WT nur etwas für Junge und solche, die mit überdurchschnittlicher Grundschnelligkeit durch schnelle Muskelfasern genetisch gesegnet sind.

Mit dem richtigen Timing sagt der alte Meister dem jungen: „Ich bin schon da“, obwohl er längst nicht so schnell ist wie früher. Es kommt nur darauf an, dass alle die Wirkung entscheidenden Faktoren auf die Millisekunde zusammenkommen: Lücke in der Deckung, Ausrichtung, Distanz, Vereinigung der Gesamtkraft, Lockerheit und Balance. Timing bedeutet nicht Schnelligkeit, aber auch der von Natur aus Schnelle profitiert vom Timing, jedoch nur, wenn er neben Schnelligkeit zusätzlich noch Geduld besitzt. „Eile mit Weile“ sollte ein WT-Motto heißen, sonst rennen wir hastig gegen noch geschlossene Türen und warnen und verschrecken den, der uns gerade öffnen wollte.

Im WT fallen wir niemandem mit der Tür ins Haus. Wir warten geduldig auf die Einladung und gehen dann ohne Hast zur Tür hinein.

Unser ManSao (nach vorne zum Gegner zeigender Arm, der die Berührung sucht) fragt den anderen: „Zeigst Du mir bitte, wohin ich dich schlagen soll?“

Wir hören auf die Kadenz des anderen, wir atmen sogar in seinem Rhythmus, um ihn wie ein Kind oder Haustier in den Schlaf zu lullen. Aber wir versuchen auch, ihm unsere eigene Kadenz einzusuggerieren.

Sie erkennen, eine dunkle Vorstellung von Timing reicht uns nicht aus, um zu lernen oder zu lehren, denn wir müssen wissen,

• was wir mit Timing erreichen können,
• was es alles beinhaltet,
• was alles dazugehört, Timing zu erlangen.

Wie sonst können wir wissen, ob wir das Gebiet Timing genügend erforscht haben und ob das Ergebnis nicht vielleicht in nur einem Drittel der Trainingszeit erzielt werden könnte.

Im Mai geht es im dritten Teil zum Thema Timing weiter mit „Timing ist die Königsdisziplin“.

Viele Grüße
Euer SiFu/SiGung