Editorial

Was ist das letzte Ziel des WingTsun? – Teil 2

Dieses Mal geht es darum, wie sich die Wandlung im WingTsun vollzieht und wie man dem letzten Ziel des WingTsun näherkommt.

Zwei konträre Auffassungen im WT
Im WT gibt es zwei widersprüchliche Konzepte, die beide Recht haben:

1. das Konzept des präventiven (zuvorkommenden) Angreifers,
    wie es der Anfänger in unserem BlitzDefence-Programm lernt („Die Aktion ist schneller als die Reaktion“),

und

2. das Konzept des Fortgeschrittenen auf dem Weg zum Meister, der Weg des Reagierens und
    des Dem-anderen-scheinbar-den-Vortritt-Lassens.
    Wie schwer, aber auch ethisch befriedigend es ist, eindeutig der Angegriffene zu sein, kann nur
    der Meister ermessen, denn nur bei ihm kann die „Reaktion schneller als die Aktion“ sein.

Um mit dem zweiten, dem höheren Konzept Erfolg zu haben, muss man aber ein anderer werden. Man muss alles opfern, was einem vorher das Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit gegeben hat: zuerst die Widerstandskraft und das Ego, dann das Setzen auf Schnelligkeit und Kraft und auf einstudierte Positionen und Bewegungsfolgen. Wir müssen das in uns sterben lassen, worauf sich unser Selbstvertrauen, unser Stolz und unsere scheinbare Identität gründen.
Versteht Ihr, wie schwer es jemandem fallen muss, etwas, das ihm zwanzig oder mehr Jahre Sicherheit und Überlegenheit gab, aufzugeben für etwas Nichtgreifbares und Ungewisses wie den Satz „Mach' Schwäche zu deiner Stärke“?
Deshalb müssen wir zuerst die Prinzipien der Gewaltlosigkeit, der Harmonie und der „Strategie ohne Strategie“ verstehen, deren Wert erkennen, sie lieben lernen und sie bei jeder Gelegenheit – auch im täglichen Leben – praktizieren.
Das Prinzip muss dem angehenden Meister mehr gelten als die Technik. So muss er das Prinzip der Widerstandslosigkeit, die allem widersteht, auf den Thron heben und die Einzeltechnik in den Staub treten.
Er muss das verabscheuen lernen, das ihn zu dem machte, was er ist und nicht mehr sein will, und das als höchste Instanz verehren, was er noch nicht kann, aber was er sein will.
Das nennt man im Taoismus sich „töten“: Man lässt die alten Dinge, die unsere Persönlichkeit ausmachten, „absterben“, um neu geboren zu werden. Mit einer neuen Idee. In unserem Fall mit der Idee der unbesiegbaren Widerstandslosigkeit, wie es im WT das Wasser symbolisiert.
Was ist also das letzte Ziel im WingTsun? Das Ziel hinter all den Teilzielen?

Wiedergeboren zu werden!
Die erste neue Idee, mit der wir wiedergeboren wurden, war die „kleine“ Idee der SiuNimTau-Form. Dadurch wurde unser Lehrer unser (KungFu-)„Vater“ (SiFu).
Aber auch diese erste Idee ist nicht die letzte, die wir vergessen müssen.
Im WT lernen wir die Dinge, um sie zu vergessen. Auf diese Weise entwickelt sich das, was Bruce Lee den „Stil ohne Stil“ („Style of no style“, die „Technik ohne Technik“, das „System ohne System“) nannte und ich oben die „Strategie ohne Strategie“.
Man muss zunächst alle Techniken lernen, denn man kann nur vergessen, was man wusste. Aber erst wenn man alles vergessen hat, stellt sich Spontaneität ein und Absichtslosigkeit (WuWei).
Auf dem Wege zum Ziel hangeln wir uns über manche Ideen, die eigentlich nebeneinander und gleichberechtigt stehen sollten, aber nur hintereinander abgearbeitet werden können, zum Endziel, zur letzten Idee.
Und wie es mein SiFu gelegentlich andeutete, sehen wir uns dann vor einem Nichts. Warum ein Nichts? Weil am Schluss keine Idee mehr steht, nicht einmal die klitzekleinste.
Und dann verstehen wir auf einmal den chinesischen Satz, dass der Weise keine Idee hat.

Viele Grüße
Euer SiFu/SiGung