Editorial

Zurück zu neuen Ufern

Großmeister Kernspechts Editorial aus der neuen WT-Welt Nr. 31 ...

Der fortgeschrittene Schüler kommt leicht verbeult in die Schule und beklagt sich beim Lehrer, dass er mit seinem WingTsun in einer Prügelei zwar überlegen war, aber nicht den mühelosen Erfolg hatte, den er sich bzw. den man ihm versprochen hatte.
Empört wie ein Priester weist der Schulleiter den vom rechten Glauben abgefallenen Ketzer zurecht und gibt dem persönlichen Unvermögen des Schülers die Schuld, dass es nicht besser klappte.
Denn wenn es an der Prämisse, am WT-System nicht liegt – weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf – kann es ja nur am Schüler liegen.
Aber stop! Könnte es noch neben dem WT und dem Anwender einen anderen, einen dritten Verdächtigen geben?
Die praktizierte Unterrichtsmethode etwa?
Aber diesen Gedanken verbietet sich der Schulleiter sofort wieder: „Wer klug genug war, so ein geniales System wie Wing Tsun zu entwickeln, war bestimmt auch klug genug, eine entsprechend gute Unterrichtsmethode zu schaffen.“
Als Vertreter des WT in Europa habe ich solche Sprüche früher auch abgesondert. Als Pro-fessor (lat. Bekenner vor) muss ich das bekennen, was mir als Wirklichkeit erscheint, und laut die Frage stellen: Darf man in einem wissenschaftlichen System einer Auffassung oder Lehrmeinung, nur weil sie verbreitet ist, blind folgen?
Wem nutzt, wem frommt solche Frömmigkeit?
Doch nur der Verewigung des Aberglaubens! Die meisten wissen nicht, dass sie nur glauben zu wissen, was sie zu wissen glauben.
Oder wollen wir uns etwa von unserer Auffassung verabschieden, dass WT ein Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und dadurch ständiger Verbesserung ist?
Genau das würden wir tun, wenn wir gläubig akzeptierten, dass das WingTsun, so wie es seit jeher ist, ebenso wie seine Unterrichtsmethode, nicht verbessert werden kann.
Erklären wir WingTsun zum Gesamtkunstwerk, das unantastbar und sakrosankt sein soll, dann legen wir uns selbst Handschellen an. Machen wir uns glauben, dass es nie bessere Kämpfer und Lehrer als früher gab und nie geben wird, dann programmieren wir uns selbst auf Stillstand. Und damit auf Rückschritt.
Wir müssen WT pietätlos – wie jede Art von Wissen – ständiger kritischer Hinterfragung unterziehen. Und die Überprüfung des WT darf nicht mit Mitteln des WingTsun erfolgen. Mit dieser Inzucht muss ein für alle Mal Schluss sein!
WT beweist sich nur in der Auseinandersetzung mit WT-fremden Konzepten.
Nicht ohne Grund griff Yip Man seine Schüler mit Fauststößen anderer Kung-Fu-Stile an.
Nur so bleibt WT lebendig und Wissenschaft und wird sich den Gegebenheiten der Zeit anpassen.
Wollen wir WT wirklich tot pflegen, bis es ein Stil ist? Wo es am Schluss nur noch um Äußerlichkeiten, um Oberflächlichkeiten und Formalismen geht?
Wenn Unterrichtsmethoden wie Formen und auch Partner-Formen, die nur auf das Ziel weisen sollen, zum Ziel selbst werden, dann ist der Weg das Ziel. Aber wir haben das Ziel verloren.
Wie findet man das Ziel wieder?
Indem wir zunächst zurückgehen zum Ursprungsgedanken. Indem wir uns fragen, was WT soll(te). Es sollte dem oder der Schwächeren eine unsichtbare Waffe sein, die vor (körperlichen) Angriffen schützt. Vor Angriffen von x-beliebigen Angreifern!
Es gibt aber noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, bevor jeder potentielle Gegner da draußen ein WingTsun-Mann ist, der denselben „Stil“ wie wir praktiziert.
Bis die restliche Welt mit der frohen Botschaft des WingTsun beglückt ist, müssen wir darauf gefasst sein, dass unser Gegner nicht mit „aufrechter Faust“ und „unbeweglichem Ellbogen“ zuschlägt. Wir sollten auch nicht unser Leben darauf verwetten, dass er unseren Fauststoß mit „Bong-Sao“ weich neutralisiert.
Leider trainieren heutzutage viele WT-Leute auf der Welt genau so blauäugig: Beim Macho-Kampf um die Parklücke sind sie dann plötzlich erstaunt, dass ihr Gegenüber nicht – wie im Training gewohnt – nachgebend kooperiert.
Schon der Stratege von Clausewitz („Vom Kriege“) war empört, dass sich die Praxis des Krieges nicht der Theorie fügte, sondern in Form von „Friktion“ (Reibung) das schönste Vorherplanen verdarb.
Ich liebe WingTsun, es ist mein Lebensinhalt. Ich möchte es diesem genialsten aller Selbstverteidigungsysteme ersparen, dass es zu einem starren, einbalsamierten Leichnam wird, den man nur anbetet.
Ohne Verständnis das zu machen, was schon andere vor uns ohne Verständnis machten, ist eine Verschwendung unserer Intelligenz.
WingTsun folgt dem Weg des Tao. Der Weg ist formlos wie Wasser: Er ist nicht geradlinig und planbar, er hat keinen Anfang und kein Ende. Es findet eine ständige Interaktion statt mit dem Gegner, den wir als Teil von uns behandeln, so dass wir uns jeder Veränderung ohne Zögern mit eigener Veränderung anpassen können, bis der Augenblick kommt, wo wir uns vom anderen entfernen und unabwehrbar zuschlagen.
Vorgeplante, auswendig gelernte Partner-Formen nützen – was die dafür nötige Sensitivität angeht – rein gar nichts.
Dabei ist an den Partner-Formen nichts Falsches. Ganz im Gegenteil! Sie sind meiner Einschätzung nach unverzichtbar, wenn es gilt, mehr als eine Handvoll Schüler zu unterrichten. Und meinem Si-Fu gebührt dafür unsere Anerkennung. Aber leider werden sie heutzutage aus den falschen Gründen und, wie ich meine, falsch geübt.
Die meisten Partner-Formen wurden – z.T. in meiner Studentenwohnung – entwickelt, um dem Schüler einen Wissensspeicher für möglichst viele Varianten der Bewegung mit nach Hause zu geben. Gern spreche ich auch von Spielmaterial, um die ganze Bandbreite verschiedenster Lösungen gefahrlos kennenzulernen.
Partner-Formen wurden ursprünglich konzipiert, um von den „Großen Sieben“ diese vier Fähigkeiten zu fördern: 1. Bewusstsein, 2. Lockerheit, 3. Körpereinheit (Koordination), 4. Balance.
Und wo bleibt in meiner Aufzählung der Tastsinn? Nun eben der wird nicht wirklich oder wenn, dann nur eher am Rande und eher zufällig dabei mitentwickelt.
Die Partnerübungen erfolgen zwar unter Kontakt, wobei die Arme aneinander haften, aber das war es auch beinahe schon. Das Vermögen, per Tastsinn zu erkennen, wo die Arme des Gegners denn hin wollen, wird nicht gefördert, eben deshalb nicht, weil wir ja vorher schon wissen, wohin der andere drücken wird. Es ist alles choreographisch bis ins Detail festgelegt, wie ein Drehbuch.
Nun könnte einer sagen: „Na gut, aber wenn die Partner-Formen von den sieben (7) kampfrelevanten Fähigkeiten sowieso mehr als die Hälfte entwickeln, ist doch alles o.k.!“
Ja, soweit ist alles o.k., aber was nicht o.k. ist, ist, dass viele Leute „glauben“, dass sie durch „tote“ (weil festgelegte) Partner-Formen lebendige Reaktionen bekommen.
Diese kann aber nur ein eigenes, spezifisches Reaktions-Training vermitteln!
Aus diesem Grunde habe ich vor Jahren begonnen – nach wissenschaftlichen Erkenntnissen – ein geeignetes Programm zu erschaffen, das ich nun unterrichte – mit „überwältigender“ Wirkung.
Keinesfalls möchte ich mir später vorwerfen lassen, dass ich es war, der die ewig wirksamen Grundsätze, nach denen wir angetreten sind, vergessen oder gar verraten hätte.
Im Jahre 1979 war sich mein Si-Fu Leung Ting bewusst, dass choreographisch einstudierte „Partner-Kampftänze“ unsinnig sind, was kampfrelevantes Reaktionsvermögen (!) angeht. Dagegen sprach er sich deutlich in seinem besten Buch „Wing Tsun Kuen“ aus:

„Ein weiterer häufig unter Kampfkunstlehrern verbreiteter Fehler ist die Überbetonung der Regelmäßigkeit bei den Übungstechniken. Bei den Partnerübungen wird alles bis ins Kleinste vorher festgelegt, so dass das Ergebnis größere Ähnlichkeit mit einem Gesellschaftstanz als mit dem Erlernen einer Selbstverteidigungsmethode hat. So gibt es z.B. beim Walzer oder Tango bestimmte Schrittfolgen, vielleicht erst drei Schritte vor, dann drei zurück, dann zwei Schritte nach links, dann zwei nach rechts. Dies alles im Einklang mit den Bewegungen des Partners und zur Musik. Wenn einer der Partner den Takt nicht hält oder einen falschen Schritt macht, verdirbt er alles und macht sich und seinen Partner lächerlich. In diesen unsinnigen ‚Kampftänzen‘ muss man sich noch mehr an die Regeln halten, spielt die Regelmäßigkeit eine noch größere Rolle. Begeht ein Partner (nicht Kämpfer!) die kleinste Unregelmäßigkeit, bricht alles zusammen. Wer solche ‚Kampfkunst-Partnertänze‘ beherrscht, braucht deshalb kein guter Kämpfer zu sein, denn die festgelegten und abgesprochenen Partnertänze haben ihn nicht auf die Wirklichkeit vorbereitet. In einem wirklichen Kampf kommen meist ganz andere Situationen vor, manche Angriffe haben gar keine Ähnlichkeit mit dem, was der Anhänger des ‚Partnertanz-Kampftrainings‘ gewohnt ist; denn oft weiß der stillos angreifende Gegner selbst nicht, wie er angreifen will. Das meint man damit, wenn man sagt, dass der (allzu) kunstvolle Meister von den wilden Schlägen eines unkontrolliert angreifenden Laien geschlagen werden kann.“

Arbeitet alle mit mir daran, dass unser WingTsun – seiner eigenen Philosophie folgend, die auch seine Strategie der Nicht-Strategie ist, sich flexibel der modernen Zeit und ihren neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen anpassend – nicht nur überlebt, sondern immer besser wird. Denn es hat seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht!

Keith R. Kernspecht

PS: Ich freue mich auf die aufregende Zukunft. Ich bin sicher, mithilfe der jung- und gesunderhaltenden Kraft des Chi-Saos und unseres ChiKungs und unterstützt von einem hochmotivierten Beraterteam, das auch am Gelingen dieser WT-Welt maßgeblich beteiligt war, noch viele Jahre der EWTO zur Verfügung zu stehen, um unser WT zu neuen Ufern zu führen.