Editorial

„Wing chun / WingTsun ist aus Tradition untraditionell!“

Das schrieb ich schon in den 1980er Jahren, und dieses UNTRADITIONELLE zieht sich durch die ganze Geschichte unseres Systems.
Der Überlieferung nach vom Shaolin-Kloster kommend, veränderte sich wing chun den Gefahren der jeweiligen Zeit entsprechend:
Als man z.B. befürchten musste, dass sich die nicht chinesische Ching-Dynastie des KungFu bemächtigen würde, veränderte Ng Mui, unsere Ahnfrau, ihren Stil gravierend zum Anti-Stil des Shaolin.
Die nächsten Veränderungen geschahen, mehr oder weniger gewollt, durch ihre Nachfolger von Yim Wing Tsun (die dem Stil den Namen gab) über ihren Ehemann bis zu Yip Man.
Yip Man, der letzte Führer der noch sehr überschaulichen kleinen Hongkonger wing chun-Schule, hat selbst gewaltige Veränderungen herbeigeführt, indem er bei anderen wingchun-ähnlichen Stilen Anleihen nahm und sogar m.E. das ganze Konzept veränderte.
Ob zum Vorteil oder Nachteil, tut hier nichts zur Sache …
Das betrifft seine neue Art des ChiSao und sogar die Zentrallinien-Theorie.
Er warf aufgrund seiner Auffassung von Wissenschaft alles aus seinem wing chun, was man heute „internal“ nennt: Chi, Yi, Ying/Yang, 5 Elemente usw.
Auch kreis- und bogenförmiges Bewegen verschmähte er, da nur Geradlinigkeit vor seiner persönlichen Idee von Wissenschaft bestehen konnte. Daraus resultieren z.B. völlig durchgestreckte Fauststösse, sog. „Lange Brücken“.

Mein 2. wing chun-SiFu (1976-2008) Grossmeister Leung Ting, der sich als letzter Privatschüler von Yip Man versteht und als Fortführer von dessen Altersstil, hat die Unterschiede zum alten wing chun noch mehr systematisiert und vorangetrieben und seinen Weg zur Unterscheidung „Wing Tsun“ genannt. Er besuchte aber auch mehrfach aus Forschungsgründen Foshan, die Wiege des wing chun mit den Ursprüngen des alten WingTsun und zeigte mir immer, was er neues Altes in Foshan entdeckt hatte, und baute es unmittelbar in seine Formen ein. Nach aussen hin wahrte er den Anschein, „dass alles schon immer so war“, dabei hat sich sein eigenes WT von 1976 an nach jedem Besuch etwas verändert.
Eine vermutlich eigene Idee von SiFu Leung Ting, als er noch ein Twen war, bestand aus der Schaffung von sog. ChiSao-Partnerformen (damals „Sektionen“ genannt. Ähnlich kontrovers diskutierbar wie im Karate das Bunkai-Training, ging es ihm darum, die Bewegungen aus den Formen „anzuwenden“.
Wobei er noch etwas daraufsetzte, er toppte alles damit, dass er von einer Anwendung immer wieder neue Übergänge zu immer weiteren interaktiven Anwendungen schaffte.
Die Akzeptanz seiner Idee zeigt sich darin, dass seine eigenen Partner-ChiSao-Sequenzen und Oberflächlichkeiten, aber auch seine Uniformen und Graduierungsfarben sogar von Schulen und Lehrern übernommen wurden, die seiner Hongkonger Schule und insbesondere der KLASSISCHEN WT-ABTEILUNG der EWTO nicht angehören.

Sifu Leung Ting handelte für einen Chinesen ziemlich untraditionell, wobei er aber, was sein eigenes Wing Tsun betrifft, sehr traditionell war, denn er änderte nur etwas an den Formen und hauptsächlich, indem er Ideen des alten wing chun aus Foshan in seine Formen arbeitete.
Sein WT, das er als Twen bis in jedes Detail geplant hatte, war im Wesentlichen so geblieben, wie ich es 1977 in Kiel erlebte.

Ich will mich nicht mit Bruce Lee vergleichen, wandelte ich doch lange auf seinen Spuren, lernte seinetwegen Wing Chun und Escrima, studierte direkt bei dreien seiner ersten Schüler in Seattle, lernte auch jenen unbekannten Wing Chun-Stil, dem Bruce Lee möglicherweise mehr in seiner kämpferischen Entwicklung verdankt als dem Hongkong wing chun von Yip Man, trainierte genau das innere System, das Bruce Lee in Hongkong parallel zum wing chun-Studium mit Begeisterung von einem chinesischen Meister lernte, der später in Heidelberg an der Universität tätig war.

Auch Bruce Lee wollte niemals einen STIL gründen, dennoch ist sein „Jeet Kune Do“ jetzt unter vielen seiner Anhänger in aller Welt ein inzwischen TRADITIONELLER Stil geworden. Man könnte auch sagen, er sei ERSTARRT, statt sich weiterzuentwickeln, wie es sich Bruce Lee selbst gewünscht hätte.

War Bruce Lees JKD noch wing chun oder hatte es sich zu weit entfernt, so dass ein neuer Name her musste, schon um sich ungerechtfertigter Kritik der Älteren nicht aussetzen zu müssen?

Es leben nur noch wenige Originalschüler Yip Mans in Hongkong, von denen ich eine Handvoll persönlich kenne.

Manche von ihnen tragen Bruce Lee heute noch nach, dass er so untraditionell war und an dem rüttelte, das die Altvorderen in Hongkong für die GRUNDWERTE des wing chun halten.

Ich habe oft erklärt, dass für mich der WESENSKERN des wing chun nicht in ihren „formvollendeten“ Bewegungen zu finden ist, sondern in seinen PRINZIPIEN und seiner Hauptübungsmethode, dem
CHI -SAO, denn in dieser Übungsweise manifestieren sich die meisten wing chun-Prinzipien.

Das wing chun-Bewegen rekruitiert sich nicht - wie sich Wörter aus dem ABC zusammensetzen, aus den FORMEN, obwohl ich es selbst so hörte und unreflektiert weitergab.
Stattdessen liefert uns die CHI-SAO-Übung unser Bewegen und damit die einzigartigen Bewegungen (des Augenblicks).

Zu den wichtigsten PRINZIPIEN des wing chun gehören:

1. das Dranbleiben am Arm des Gegners
2. das Verfolgen und Nachsetzen
3. die Widerstandslosigkeit
4. das Angreifen von Deckungslücken
5. der ständige Drang nach vorne zum Gegner

Punkte 2 und 5 sehe ich nach meiner Erfahrung so nur beim wing chun, die Punkte 1, 3 und 4 lassen sich auch in anderen Kampfkünsten erkennen.

Nun muss eine Methode, die alle 5 Prinzipien benutzt, trotzdem nicht wie wing chun aussehen.
Und wenn man ihr beim Wirken zuschaut, werden nur Eingeweihte die wing chun-Prinzipien dahinter erkennen.

Aber eine Methode, die die bekannten äußerlich erkennbaren wing chun-Bewegungen benutzt, kann sich für wing chun ausgeben und vielleicht auch dafür halten, obwohl es nicht alle genannten wing chun-Prinzipien benutzt.

Was mich betrifft, bin ich den PRINZIPIEN des wing chun /WingTsun treu, muss aber akzeptieren, dass die meisten abstrakte Prinzipien nicht erkennen, wenn sie am Wirken sind,

Das und die Tatsache, dass ich mich auf ein älteres wing chun, als es in Hongkong betrieben wird, beziehe, und dass ich einen fremden, sog. internen Motor mit übergrossem Hubraum benutze, hat auch mich dazu gebracht, für mein eigenes System, das auf ChiSao und nicht auf Formen aufbaut und kein Stil werden will, einen neuen Arbeits-Namen zu finden.

Dr. Keith Kernspecht (77)
Prof. em. Kampf-Sportpädagogik

• 10. Meistergrad WT (Leung Ting)
• 8. Dan Kyokushin-Karate Allround (Jon Bluming)
• 8. Lehrergrad Yi Lik Kuen (nach Jimmy Heow)
• 6. Meistergrad Escrima (Bill Newman)