Editorial

"Wenn Wing Chun so wirkungsvoll ist, weshalb sieht man es nicht bei MMA-Kämpfen?"

Immer wieder lese ich Mails und Facebook-Kommentare von Leuten, die sich über klassische Kampfkünste und Selbstverteidigungsmethoden lustig machen oder sogar verächtlich äußern.
Vor dieser nicht selten sehr primitiv abgesonderten Häme ist keine Kampfkunst gefeit, die ein Bewegen unterrichtet, das nicht exakt wie vom MMA oder UFC gewohnt aussieht.

Wir repektieren MMA-Athleten und Grappling und schätzen den Fokus auf Realität, der vielen Träumern und Spinnern unter den Kampfkünstlern inzwischen hoffentlich die Augen geöffnet hat. Und schon in meinem Bestseller "Vom Zweikampf" schrieb ich 1987, als kaum jemand außer mir irgendetwas vom Ringen (Grappling) hielt, dass ich eine "Mischung aus Boxen, Fußball-Tritten und Freistilringen" für die beste Kampfmethode halte.

Ein hochverdienter Karate- und Kickbox-Pionier schrieb erbost:

"Heute erlauben sich Jüngelchen, die sich gerade erst in einen MMA- oder Grappling-Kurs eingeschrieben haben oder Couch-Potatoes, deren Wissen von YouTube stammt, uns Oldtimer zu beschimpfen, die wir schon auf der Straße in Ausübung unseres Berufes gekämpft haben, als es diese Überklugen noch gar nicht gab."

Aber was löst diesen Reflex bei den Leuten aus, alles was nicht wie MMA aussieht, zu Quatsch und Schwachsinn zu erklären?

Ich meine, dass es schiere Unwissenheit ist:

Diese Menschen wissen nicht, dass es die klassischen Kampfkünste waren, und nicht nur Ringen und Boxen, die ursprünglich die Techniken lieferten, die nun im MMA und UFC Verwendung finden.

Da die MMA-Trainingsweise mehr am westlichen Boxen orientiert ist, hat das Kampfbewegen ein flüssigeres und natürlicheres Aussehen als die von oft steifen Formalitäten und roboterhaften Techniken bestimmten alten asiatischen original Künste.     

MMA-Kämpfe geben ein freieres und natürliches Bild ab, das nur der Zweckmäßigkeit und der persönlichen Vorliebe folgt.

Dennoch haben die nach MMA-Modus ausgetragenen Kämpfe und ihre Trainings etwas Uniformes und Stereotypes:

Die Sportler bereiten sich in fast gleicher Weise vor und üben sich in den verschiedenen Phasen des Kampfes, die ich bei uns im EWTO-WingTsun in 5 Distanzen und ihre entsprechenden Waffen einteile.

Mein Buch "Vom Zweikampf" von 1987 handelte schon davon:

1. Treten

2. Boxen, Schlagen, Stoßen

3. Ellenbogen, Knie, Kopfstöße, Clinchen

4. Ringen im Stand, Hebeln, Würgen, Werfen

5. Kampf am Boden

Alle Kampfsportarten/Kampfkünste sind mehr oder weniger auf 1-2 dieser Distanzen spezialisiert.

MMA ist AUCH kein Stil, sondern eine Austragungsart von Wettkämpfen, in der man verschiedene Stile mixt (MMA = Mixed Martial Arts).

Welche Stile sind es nun, die sich am einfachsten zu diesem Zweck mischen lassen?

Natürlich solche, die schon vorher im Wettkampf sportlich benutzt wurden:

A priori würden mir Judo/Jiu Jutsu, Kyokushin-Karate, Thai-Boxen und Ringen, einfallen.

Und unsere Experten in der EWTO, die MMA-Methoden und Grappling auf mein Anraten zuerst bei Jon Bluming und dann in den USA bei Gene leBell und Gokor Chivichyan trainieren, also GM Thomas Schrön, der außerdem noch Black Belt im Brazilian JuJitsu (BJJ) ist, und GM Oliver König geben mir recht, dass die Praxis wohl so aussieht.

Thaiboxen ist am Vielseitigsten: Es verfügt über die ersten 3 Phasen.

Boxen ist in der Phase 2 mit seiner Spezialität "Faustschläge" führend und von der Phase 3 können sie Clinchen.

Judo und Ringen beherrschen die 4. und 5. Phase.

Halten wir fest, dass Wing Chun in seinen verschiedenen Schreibweisen, das russische Systema, das israelische Krav Maga ebensowenig in dieser Auswahl der MMA-üblichen Stile auftauchen wie Kempo, Aikido, Tai ji, Pakua, Hsing-I, Yi Chuan, I Lik Chuan, Choy Lee Fut, Silat , Weißer Kranich, Südliche Gottesanbeterin, Weiße Augenbraue, Tongbei usw.

Bedeutet das nun, dass diese Stile für einen MMA-Einsatz nicht die dafür qualifizierenden technischen Voraussetzungen haben?

Natürlich nicht! Sie hätten sie alle das Zeug, zwei oder mehr der fünf Phasen mit Techniken zu bestücken.

Tatsächlich geht es bei MMA-Tauglichkeit gar nicht so sehr um die Stil-spezifischen Techniken, sondern um die Art und Weise, wie intensiv und hart diese Techniken trainiert werden und wie viel die Kämpfer dieser Stile einzustecken oder auszuteilen bereit sind. Ohne eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gesundheit des anderen und der eigenen geht es nicht und die bringen heutzutage nur die wenigsten auf.

Ich behaupte also, dass auch andere Stile, wenn es nur um ihre technischen Mittel geht, Teilbereiche bei der Vorbereitung auf MMA-Tournaments abdecken könnten, aber dass die nötigen Kämpferpersönlichkeiten in der erforderlichen Menge nur bei den oben genannten 4-5 Stilen anzutreffen sind.

Zum Beispiel war Tai ji (Tai Chi) früher ein Stil, bei dem auf Leben und Tod gekämpft wurde, während es heute eine Art Life Style-Aktivität geworden ist mit entsprechend eingestellten Anhängern.

Das uniforme Bild, das MMA-Kämpfe bieten, verdankt sich nicht der Notwendigkeit, dass Kämpfen genauso aussehen muss!

Es könnte auch anders aussehen und müsste deshalb nicht weniger wirksam sein.

Diese falsche Annahme, dass nur die dort zu sehenden Techniken kampflogisch sind und alle andere "Blödsinn", drängt sich dem Betrachter und auch Praktizierendem durch die schiere Menge der gleichartigen Technik-Bilder auf. Die ganze Kampfsportwelt ist mit diesen Stereotypen durchsättigt.

Dadurch werden viele in Versuchung geführt, dem Irrtum aufzusitzen, dass nur diese Techniken und nur diese Stile funktionieren, wenn es darauf ankommt.

Um wieder auf unser WingTsun (wing chun, Ving tsun) zurückzukommen,

es hat in der 1. Phase (Treten), der 2. (Schlagen, Stoßen), der 3. (Clinchen, Ellenbogen, Knie) und auch etwas in der 4. Phase (Grappling im Stand, Hebeln, Würgen, Nervenpunkte angreifen) zu bieten.

Am Kämpfen am Boden gab es zu Zeiten Yip Mans in Hongkong kein Interesse. Selbst Jigoro Kano, der Begründer des Judo, verachtete Bodenkampf, denn "Ein Mann ist kein Tier, sondern er kämpft aufrecht stehend!" Später nahm Kano dann Anleihen bei anderen Stilen und Bodenkampf wurde zu einer Domäne des Judo!

Mein 2. SiFu Leung Ting (1976-2008) lehrte aber immerhin in Spezialklassen Fallübungen und Kampf am Boden.

Ich selbst begann meine Kampfsport-Laufbahn Ende der 1950er Jahre mit Ringen (ich habe sogar Ende der 1960er Jahre bis1970 als "Catcher" (heute "Pro Wrestler" genannt) gearbeitet, um mir etwas Geld zum BaFög dazuzuverdienen), dann Judo/Jiu Jitsu und später auch Aikido und Hapkido, deshalb gehörte bei mir das, was man heute Grappling nennt, immer etwas dazu.

WingTsun (WT) ist aber kein Kampf-Sport, sondern wie wir es verstehen, eine Kampf-Kunst bzw. reine Selbstverteidigung. Wir brauchen keine Kondition für 5 Minuten und mehr, sondern im Kampf gegen einen Gegner maximal 5 Sekunden. Das ist meine eigene Erfahrung und die meiner Schüler! Wir kämpfen nicht fair, sondern ziemlich raffiniert und grausam, denn per definitionem sind wir die Schwächeren (unsere Ahnherrin war eine Frau, eine Nonne) und kämpfen nur in Notwehr, wenn uns der Kampf aufgezwungen wird. Oder um Schwächere zu verteidigen. So ist der alte Ehrenkodex im KungFu.

Im Wing Tsun ist der Kampf auch gar nicht das Ziel,

sondern dessen Vermeidung oder der Sekunden-Erfolg bei der Selbstverteidigung. Wir wissen, dass Achtsamkeit und Geistesgegenwart wichtiger sind als Körperkraft und Technik. Und wir rechnen immer mit mehreren Gegnern und mit Gegnern, die Waffen wie Messer usw. mit sich führen. Gedanken, die sich ein MMA-Kampfsportler nicht macht.

In der Regel sind wir auch keine (Berufs)Athleten, sondern normale Menschen, wobei wir einen hohen Frauen- und Studentenanteil haben.

In einem Wort, die meisten unserer 50-60.000 MitgliederInnen wollen sich oder andere verteidigen können, aber würden nie auf die Idee kommen, an UFC-Kämpfen teilzunehmen.

Öffentlich zu kämpfen verträgt sich aber auch nicht mit der Einstellung anderer Kampfkünste und ganz besonders nicht der sog. inneren Schulen, denen es um ganz andere Dinge wie Selbstperfektionierung geht und die Wettkämpfe als Ego-Förderer im zen-buddhistischen Sinne ablehnen.

Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sich Praktizierende solcher seltenen Methoden für die Teilnahme an solchen Kämpfen erwärmen.

Was bei 100%ig inneren Methoden wie Tai ji, Hsing-I, Pakua, Yi Chuan, I Lik Chuan noch hinzukommt, ist, dass man sie nicht schon nach 10 Jahren so beherrschen kann, dass man sich solchen Kämpfen stellen könnte. Ich kann nicht für alle diese hochentwickelten Methoden sprechen, aber um es zum Beispiel im Tai Ji (Tai Chi Chuan) zur kämpferischen Meisterschaft zu bringen, ist vielleicht nicht einmal die doppelte oder dreifache Zeit ausreichend.

Ganz anders sieht es aber aus, wenn schon aktive MMA-Sportler sich Teilkenntnisse aus den genannten Künsten aneignen würden.

Dies würde ihnen deutliche Wettbewerbsvorteile bringen, denn mit dem Unbekannten käme der Gegner nicht so einfach klar.

So bin ich mir sicher, dass ein MMA-Sportler seine Leistung

und damit seine Gewinnchancen entscheidend verbessern würde, wenn er z.B. zur Optimierung seines Infights (Clinching) zusätzlich Sticky Hand-Methoden aus WingTsun, aber auch den anderen oben genannten Künsten adaptieren würde.

 

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht