Editorial

Der Kampf ist kein Tango

In seinem Meisterwerk „WingTsun Kuen“ sagt mein Si-Fu Leung Ting mit aller Deutlichkeit, dass ein Kampf kein Tango ist: Der Gegner auf der Straße wird nicht dieselben Tanzfiguren mit uns hinlegen und nicht mit uns den Rhythmus halten.

Warum wird dann aber fast überall in der Kampfkunst so unterrichtet, als ginge man zu einem Tanz? Selbst in unserem, dem praktischsten und aufgeklärtesten chinesischen Selbstverteidigungssystem? Warum verbringt man den größten Teil der Trainingszeit mit dem Auswendiglernen von choreographierten Ballettbewegungen, wenn der Angreifer wild und völlig ungeordnet angreift? Warum geht man immer davon aus, dass der Gegner den gleichen Kampfstil benutzt? Vielleicht, weil der Schüler die Augen verschließen will vor der scheinbar unberechenbaren Realität da draußen und lieber auf sicherem Grunde das dort nicht zu Findende sucht. Mich erinnert das an den Menschen, der seinen Schlüssel nachts auf dunklen Nebenwegen verloren hat, diese Tatsache aber ausblendet und ihn lieber vor seiner beleuchteten Haustüre sucht ...
Oder sollte es an der Bequemlichkeit mancher Lehrer liegen, die lieber 15 Minuten lang Partnertänze unterrichten, um sich dann eine halbe Stunde ins Hinterzimmer zurückzuziehen, weil dort die Zeitung oder ihr Computerspiel auf sie wartet?
In jedem Falle ist Bequemlichkeit schuld, dass der WingTsun-Tango in höherer Gunst steht als das einzige Heilmittel, das uns mit Sicherheit hilft, uns im Clausewitzschen Nebel des Kampfes zurechtzufinden: Tastsinn und Timing.
Sollten wir der Tatsache, dass ein Straßenkampf keinen Regeln folgt, dass es kein Drehbuch dafür gibt, sondern scheinbar das blutige Chaos herrscht, nicht mehr Rechnung tragen?
Warum suchen wir unseren Schlüssel für Unberechenbarkeit des Kampfes nicht dort, wo wir ihn auch finden können?
Sektionen, Partnerformen, Partnertänze sind unersetzlich für Beweglichkeit, Gleichgewicht, Körpereinheit, ja sogar Timing und Kampfgeist. Sie können nur eines nicht: Sie können uns nicht das Fühlen lehren. Und aufs Fühlen kommt es im WingTsun an. Ohne einen Supertastsinn haben wir im Nahkampf keine Informationen über den Gegner und seine Aktionen und stehen im Regen seiner Angriffe.

Wie sinnvoll ist es, in Partnerformen tausend festgelegte Abwehren für tausend ebenso festgelegte Gegenangriffe einzustudieren und zu hoffen, dass der Angreifer sich so verhält wie der nette Übungspartner von gestern Abend? Am Schluss haben wir tausend verschiedene Abwehren, die auf tausend dazugehörige Angriffe warten. Nehmen wir einmal gutwillig an, es wären real vorkommende Angriffe, auf die unsere Antworten warten und unsere auswendig gelernten Abwehren würden wirklich geeignet sein. Wie sollten wir es schaffen, aus der Menge der memorierten Lösungen die passende in wenigen Millisekunden auszuwählen?
Stellen wir uns vor, wir führten eine Unterhaltung, aber uns fehlte ein wichtiger Begriff, der sich nicht ersetzen lässt. Wie viel Zeit brauchen wir, um ihn im Wörterbuch zu finden?
Und wie lange braucht es, eine Technik, die auf der Oberfläche des Gedächtnisses gespeichert ist, abzurufen? Und wie lange dauert dieser Vorgang, wenn wir uns im Stress einer Kampfsituation befinden und der Hormoncocktail uns zum Spielball von Emotionen macht?

Zum Glück ist WT nicht technik-, sondern prinzipienorientiert! Wie oft haben wird dies unseren Schülern gesagt? Lasst uns dieses Versprechen jetzt einlösen!

Keith R. Kernspecht