Editorial

Der Letzte wird der Erste sein. Das Geheimnis effektiver Selbstverteidigung

Ausschnitt aus Großmeister Kernspechts neuem Buch, das diesen Monat erscheinen wird und die logische Fortsetzung seines Werkes „Angriff ist die beste Verteidigung" darstellt.

Woher wir wissen können, wann der Gegner angreifen wird.

Die warnenden Hirnströme

1965 haben zwei deutsche Neurologen entdeckt, dass zwischen einer und einer halben Sekunde, bevor wir eine einfache Handlung aus eigenem Antrieb beginnen (etwa den Finger krümmen) bestimmte Hirnströme bei uns zu erkennen sind. Diese große Zeitspanne zwischen dem Bereitschaftspotential für eine Handlung und der Handlung selbst erschien einem amerikanischen Gehirnforschungsprofessor ziemlich lang, so dass er herausfinden wollte, wann es dem Menschen denn bewusst wird, dass er eine solche willkürliche Handlung begehen will.
Seine Versuchsanordnung kann von uns in diesem Rahmen vernachlässigt werden, in jedem Fall entdeckte er, dass dem Menschen das Vorhandensein einer solchen Absicht erst ca. 0,2 Sekunden vor der Handlung bewusst wird. Mit anderen Worten, erst nach verstrichenen 0,3 Sekunden wird uns Menschen bewusst, dass wir (was eigentlich von uns?) eine Handlung beschlossen haben. Der Entschluss zu einer willkürlichen Handlung entsteht also ohne unser Wissen, die Handlung selbst startet unbewusst!
Dabei wird uns allerdings von unserem Gehirn vorgegaukelt, wir hätten den 0,3 Sekunden alten Entschluss gerade jetzt bewusst gefasst. Unser Bewusstsein betrügt uns also schamlos!
Was nützen uns nun diese Forschungsergebnisse für unsere BlitzDefence-Situation im ritualisierten Kampf?
Es ist ja interessant zu wissen, dass sich die Absicht zu einer willkürlichen Handlung schon 1 Sek oder mindestens 0,5 Sek (bei einfachsten Handlungen) als sog. Bereitschaftspotential im Gehirn abzeichnet. Aber in der Praxis können wir unserem wutentbrannten Kontrahenten in der Kneipe kaum Elektroden am Kopf befestigen, um mittels mehrfacher Elektroenzephalographie (EEG) anhand der Veränderung des elektrischen Feldes bestimmen zu können, dass eine Vorwarnung vorliegt.

Die verräterische Körpersprache

Erst 0,2 Sekunden vor der Tat weiß der Angreifer, dass er zuschlagen will. Aber sein Gehirn und sein Körper wissen es schon 0,3 Sekunden vorher. Während der Angreifer noch ahnungslos ist, hat der Körper schon mobil gemacht: Die Hormone werden ausgeschickt. Die Geschütze werden ausgefahren, die Geschosse werden ins Rohr geladen, alles ist bereit, um die Lunte anzuzünden, die Motoren laufen auf volle Kraft, die Muskeln bereiten sich schon auf den Rückstoß (Reactio) vor.
Der künftige Angreifer selbst weiß noch nichts davon, aber der Verteidiger weiß mehr über ihn als er selbst.
Die vielen Millionen bit, die nicht in sein Bewusstsein vorgedrungen sind und ihm nicht zugänglich sind, können vom Verteidiger mit etwas Erfahrung gelesen werden. Sie sind für den, der Körpersprache versteht, die nötige Erfahrung hat und seiner Intuition traut, ein offenes Geheimnis.
Wer nur auf seinen Einsatz wartet und auf die verräterischen Zeichen des Körpers reagiert und nicht von der Angst gelähmt ist, der hat jetzt mehr als eine gute Chance, schneller zu sein als der Angreifer. Denn er kann jetzt früher als der Angreifer selbst oder zeitgleich mit ihm wissen, dass der gleich zuschlägt. Die rechte (sprachlose) Gehirnhemisphäre erkennt kreuzweise über das linke Auge, ohne dass wir sagen könnten woran, die Angriffsvorbereitungen des anderen.
Da wir mit einem vorher einprogrammierten WingTsun-Gegenangriff re-agieren, können wir uns die Mindestreaktionszeit von 0,1 Sek zuschreiben. Rechnen wir den Gegenangriff mit ebenfalls 0,1 Sek, ergibt sich eine Gesamtzeit von 0,2 Sek. Der Angreifer hat keine Reaktionszeit, wohl aber eine nicht zu unterschreitende Vorbereitungszeit von 0,5 Sek. Wenn wir ihm dazu eine Angriffszeit von 0,1 Sek addieren, ergibt sich für ihn eine Gesamtzeit von 0,6 Sek.
Für den wirklich rein theoretischen Fall, dass unser Verteidiger bei minus 0.5 Sek (Bereitschaftspotential) den Beginn der Angriffsvorbereitung erkennt, könnte er den Angreifer 0.1 Sek vorher am Kopf treffen, bevor der sich bewusst ist, dass er angreifen will. Vielleicht ist dies die Erklärung dafür, dass manche Möchtegern-Schläger, nachdem sie „was an den Kopf bekommen haben“, stammeln: „Aber ich wollte doch gar nichts machen.“
Da ich bei meinen Experimenten den „Gegner" oft treffe, wenn dem nach eigener Aussage gerade klar geworden ist, dass er angreifen will, gehe ich davon aus, dass ich oft schon bei etwa -0,2 Sek das Bereitstellungspotential „unbewusst“ erkenne und den „Gegner“ treffe, wenn dem gerade bewusst wird, dass er angreifen will.
Selbst wenn der Verteidiger erst um -0,1 das „Bereitschaftspotential“ erkennt und in den um 0,0 Sek startenden Angriff des Gegners hinein kontert, wird seine Reaktion zeitgleich mit der Aktion des Angreifers sein. Aufgrund der überlegenen Angriffs-Positionen und -Winkel des WT-Fauststoßes wird der BlitzDefence-Anwender den Arm des Gegners kontrollieren und selbst treffen.

Die Re-Aktion ist immer schneller als die Aktion!

Immer wieder lese oder höre ich von z.T. hohen Meistern auch verwandter Stile, dass die Aktion schneller sei als die Reaktion und dass wir doch Akteure sein mögen, die das Spiel aktiv bestimmen und initiieren. Erst nach jahrzehntelangem Forschen und Experimentieren erkannte ich die Wahrheit. Diese Leute rechnen nur von dem Beginn der Bewegung des Gegners aus und halten den Angreifer deshalb für überlegen, weil er keine Reaktionszeit benötigt. Tatsächlich wird der Angreifer aber durch eine Vorbereitungszeit, die in unserem Falle fünfmal so lang ist, gebremst. Erkennt der Verteidiger unbewusst rechtshemisphärisch30 das Bereitschaftspotential, dann kann er dem Agierenden – reagierend – leicht zuvorkommen. Da das rechte Hirn aber nach Ansicht einiger Wissenschaftler schneller betrunken wird als das linke, sollte man in der Disko besser abstinent sein, wenn man Trouble erwartet oder anzieht ...
Es macht auch durchaus Sinn, dass die Natur die Reaktion schneller angelegt hat als die Aktion. Während derjenige, der tätig werden will, zuerst plant, sich in eine günstige Position bringt, „durchrechnet“ wie er möglichst ausbalanciert die Wucht des Auftreffens im Arm und im Stand verarbeitet und über die Konsequenzen seines Tuns vor-denkt, darf sich, muss sich der Verteidiger als Reagierender solche Gedanken nicht machen. Während der Angreifer zu einer Entscheidung finden muss, bedarf es beim Verteidiger nur einer semi-reflexartigen konditionierten Reaktion mit minimaler Vorbereitungszeit, wie der Schwanzschlag eines Reptils.

Weshalb der faire Held in den Western so oft gewinnt

Kein Geringerer als der Wissenschaftler Niels Bohr kam zu einem ähnlichen Schluss, als er darüber sinnierte, ob die romantischen Western recht haben, wenn sie bei Duellen den fairen, weißgekleideten Helden gewinnen lassen.
Er schickte seine Studenten aus, um Spielzeugpistolen und Holster zu kaufen, und bewies ihnen, indem er einen nach dem anderen im Zweikampf besiegte, dass der Faire, der dem anderen den Vortritt lässt, gewinnen muss*. Und zwar nicht, obwohl er wartet, sondern weil er den anderen zuerst zum Eisen greifen lässt. Der Böse muss entscheiden, wann er ziehen will, dadurch braucht er länger als der Gute. Unser Held reagiert auf das Ziehen des anderen mit einer konditionierten Reflexhandlung, zu der er viel weniger Zeit benötigt als der Bösewicht.
Keine besonderen Entscheidungen (bits) dabei sind nötig, da der gegnerische Angriff nicht näher identifiziert werden muss und die Reaktion der vorher viele tausend Mal geübte eigene Schuss ins Zentrum des Angreifers ist.

Die Freiheit des Willens und das Vetorecht

Das Gehirn scheint seine Entscheidung verborgen und von uns unbewusst zu treffen und teilt sie uns dann freundlicherweise mit Verspätung mit.
So vorteilhaft wie diese Verspätung des Bewusst-seins für uns als Angegriffene im ritualisierten Kampf oder in einer Revolverduellsituation ist, so gemischt sind meine Gefühle, was die damit verbundene Freiheit unserer Entscheidungen angeht. Haben diejenigen recht, die sagen, dass „der Mensch nicht(s) tun kann“? Das wirft Rechtsprobleme auf, denn wie kann man jemand für etwas bestrafen, für das er nicht selbst die Entscheidung getroffen hat?
Wie kann der Durchschnittsmensch die Ge-bote des Neuen Testamentes einhalten, wenn er nur Ver-bote mittels Vetorecht befolgen kann?
Es ist ein schwacher Trost, dass wir zumindest noch 0,2 Sekunden Zeit haben, den vom Gehirn (?) für uns (wem?) unbewusst geplanten Ent-schluss wieder abzublasen, nachdem wir uns dessen bewusst geworden sind.
Mit anderen Worten, der Mensch hat 0,2 Sekunden lang ein Vetorecht. Grund genug, sehr bewusst zu leben und immer wieder in sich reinzuhorchen und z.B. die Siu-Nim-Tau in Zeitlupe zu üben. Nur bei Zeitlupen-Übungen können wir achtsam genug sein, die Chance der zwei Zehntelsekunden zu nutzen, die den Unterschied zwischen Maschine und Mensch darstellen.
Immer wieder müssen wir in der täglichen Praxis versuchen, vor Einleitung einer jeden Handlung, sei es bevor wir zum Glas greifen oder den Schlüssel in die Tasche stecken, den Entschluss dazu bewusst zu fassen.
Unseren Zustand zu erkennen und ändern zu wollen, um uns selbst über die Maschine Mensch zu erheben, den Roboter in uns zu überwinden und selbst die Verantwortung und Herrschaft über uns zu übernehmen, muss das wichtigste Ziel eines jeden Menschen sein!