Editorial

Großes Glück durch morschen Zufall

Aus aktuellem Anlass:
Die Hamburger Morgenpost berichtete in der Ausgabe vom 22.8. über eine Frau, die knapp und nur mit sehr viel Glück in Hamburg-Barmbek einem grausamen Verbrechen entkommen konnte. In Extremsituationen sollte man sich jedoch auf keinen Fall nur auf das Glück verlassen.

In der Hamburger Morgenpost las ich über Thomas F. und sein Sexfolter-Verlies.
Thomas F. hatte an der Wohnungstür seines Opfers geklopft und sie mit einer Pistole und einer Handgranate (oder nur Attrappe?) bewaffnet, gezwungen, mit ihm in seine Wohnung zu gehen.

„Es klingelt. Sarah öffnet die Tür. Da steht er. Mit einer Pistole in der Hand. Sie denkt vielleicht erst an einen Spaß. Sie muss (wieso muss?) mit ihm im Wagen zu seiner Wohnung fahren.“

Als sie die Kanülen, Spritzen, gynäkologischen Geräte sah, wusste sie, was ihr blühte. Zitat: „Als der Mann Sarah P. in die Wohnung führte, wird ihr endgültig (etwas zu spät) klar, wie todernst ihre Lage ist.“

Es gelang ihr durch unverschämtes Glück, das Wohnzimmerfenster aus den schwächlichen Angeln zu reißen und den schlecht angebrachten Stacheldraht beiseite zu schieben und zu flüchten. Er lief immer noch hinter ihr her mit der Pistole und der Handgranate. Wollte sie erschießen, wenn er sie einholt. Sarah konnte sich zu einer Freundin in die Wohnung retten.

Es ist bezeichnend, dass die entsprechenden Artikel, die die Sensationsgier und den Nachahmungstrieb bestimmter Personen aufgeilen, es wieder einmal versäumen, Ratschläge zu geben, wie Sarah sich besser hätte verhalten können; denn dass sie entkommen konnte, war purer Zufall. Hätte der Täter ein vernünftiges Gitter gehabt, wäre es ihr nicht geglückt.
Sarah machte zwei Fehler, abgesehen davon, dass man nicht jedem die Tür öffnet:

Der erste Tipp
Der Tipp, den ich jedem – und besonders jeder Frau – geben möchte, ist:
Lass dich nie, nie zu dem so genannten „Zweiten Ort des Verbrechens“ führen. Auch nicht mit vorgehaltener Waffe!
Tobe, wirf mit Gegenständen, schreie herum. Die Statistiken zeigen, dass der Täter sehr selten schießt, weil er die Nachbarn und die Polizei nicht auf den Plan rufen will. Und selbst, wenn er schießen sollte, wird er mit dem ersten Schuss nicht und schon gar nicht tödlich treffen. Der Krankenwagen ist in einer größeren Stadt in wenigen Minuten am Tatort und die ärztliche Kunst ist so weit fortgeschritten, dass sie das Opfer ziemlich sicher wieder zurecht flicken können.
Aber wer sich an einen „zweiten Ort des Verbrechens“ bringen lässt, kann mit sehr langen Qualen rechnen; denn was kann so ein Mistkerl (sorry: Kranker) für einen Grund haben, eine Frau verschleppen zu wollen?
Sarah hat nur unverschämtes Glück gehabt.

Der zweite Tipp
Was war Sarahs zweiter Fehler? Ich wette, Thomas F. war nicht angeschnallt. Sie hätte mit derselben Kraft, mit der sie das Fenster herausriss, das Lenkrad zur Seite reißen müssen. Karambolage spielen, ins nächstbeste Auto fahren. Mehr Aufmerksamkeit kann man nicht bekommen. Die Passanten wären in wenigen Sekunden bei ihr gewesen. Ein paar Tage oder Wochen Krankenhaus kann Stunden, Wochen, Monate und Jahre endloser Qual ersparen!
So, das musste ich noch brühwarm loswerden. Ich würde es meiner Frau oder meiner Tochter auch empfehlen!

Noch ein Nachschlag
Wenn Du draußen bedroht wirst: Der Verbrecher will Dich wieder mit der vorgehaltenen Schusswaffe zu einem „Zweiten Tatort“ zwingen. Lauf ohne irgendeine Diskussion weg. Manche empfehlen hier Zickzack laufen. Aber Hauptsache weg! Die Wahrscheinlichkeit, dass er Dir hinterher schießen wird, ist höchst gering, und falls er es doch tut, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er überhaupt etwas trifft.

Es würde mich freuen, wenn Ihr diese Tipps überdenkt und auch in Eurem Bekanntenkreis weitergebt.
Euer SiFu/SiGung

Link zum Artikel der Hamburger Morgenpost von Marius Röer, Rüdiger Gaertner, Malte Steinhoff und Christoph Heinemann

Kommentar eines Polizeiexperten zu meinem Editorial:

Lieber SiFu,

sehr informativ und sehr gut kommentiert von Dir. Sehr gute Tipps, meines Erachtens nach alle 101 % richtig.

a. Der erste Fehler war definitiv die Türe zu öffnen.
    Dieser Tipp für kleine Kinder sollte auch von Erwachsenen beherzigt werden.
    Aber vorsichtig, dieser Tätertyp baut oftmals vorher ein Vertrauensverhältnis
    zu seinem späteren Opfer auf, d.h. sie kennen sich…

b. In dieser Situation noch zu flüchten, die Nerven zu haben, umzusetzen, zu sehen,
    wo komme ich raus: Ich möchte das als Können bezeichnen, weniger als Glück. Respekt!

c. Fast alle diese Täter haben keine echten, scharfen Waffen. Zu über 90 % sind es PTB-Waffen
    (also Knall- oder Gaswaffen), die im extremen Nahbereich auch töten können, aber ab einem
    Meter nicht mehr so viel Schaden anrichten.

d. Die Auswertung der FBI-Profiler und führender Militärinstitute haben ergeben, dass in solchen
    Situationen die höchste Chance auf erfolgreiche Gegenwehr darin liegt, sich unmittelbar zu Beginn
    des Kidnappings zu wehren. Extrem aggressiv, mit allem. Der Täter selbst ist aufgeregt, ist sich
    unsicher. Man kann die eigene Angst noch erfolgreich umsetzen, hat meistens noch keine Handfessel
    an usw.
    Bei Geisellagen und beim Militär kann man auch seine Chance darin suchen, den Täter nach einer
    gewissen Beruhigungsphase zu übertölpeln, was aber beim sexuell-orientierten Serientäter nicht
    fruchtet.

Dr. Frank Metzner
Polizeiexperte und EWTO-Lehrer für WT und Newman-Escrima

Kommentar Sifu Sabine Mackrodts:

Lieber SiFu!
Täter brauchen Opfer, das wird hier mal wieder deutlich, finde ich. Ich habe einfach spontan ein paar Kommentare zu Deinem Text geschrieben.

… „Als der Mann Sarah P. in die Wohnung führte, wird ihr endgültig (etwas zu spät) klar, wie todernst ihre Lage ist.“…

Ich denke, wie todernst die Lage war, hat sie schon viel, viel früher gespürt. Sie wollte, typisch Frau, es nur nicht wahrhaben. Wahrscheinlich wusste sie schon um die Gefahr, in der sie sich befand, als sie die Tür auf machte!

…Sarah hat nur unverschämtes Glück gehabt…

Das sehe ich genau so. Ich würde nur sagen Sarah hat nicht nur Glück gehabt; sie hat auch, etwas spät zwar, ihren Kampf- und Überlebenswillen entdeckt. Immerhin ist sie ja herausgekommen aus der Situation. 

Sich lieber anschießen als an einen zweiten Ort bringen zu lassen, ist ein neuer Blickwinkel für mich.

Ja, unvorstellbar, dass sie brav neben dem Kerl gesessen hat und auch noch ausgestiegen und mit in seine Wohnung gegangen ist. Sich für die eigene Rettung auch Verletzungen zuzumuten und klar zu sein, dass frau das überlebt, ist sehr hilfreich. Und, sie hätte all das verhindern können, hätte sie zuvor auf ihre innere Stimme gehört und gehandelt. Davon bin ich überzeugt!

Danke für Deine klaren Worte! Vieles muss man einfach wissen, damit man/frau sich traut!

Sifu Sabine Mackrodt
EWTO-Fachtrainerin Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen