Editorial

Kann sich jeder ändern?

Du kannst nicht machen, was du willst,
solange du nicht weißt, was du tust.

Moshé Feldenkrais

Großmeister Kernspecht zu der Frage, was wir tun können, um nicht immer vor denselben Problemen zu stehen und immer dieselben negativen Erlebnisse machen zu müssen.

Ich sitze auf dem Beifahrerplatz unterwegs von Langenzell nach Norddeutschland und mache mir Gedanken über ein Thema, das kürzlich mehrere große deutsche Zeitschriften anschnitten. Veränderung (Transformation) ist nicht nur das zentrale Thema und Ziel des (äußeren) körperlichen, sondern auch des inneren (geistigen, psychologischen) WingTsun, das heißt der 3. Ebene. Irgendwann erkennen wir, dass wir, so wie wir sind, immer in dieselben Situationen und immer an dieselben Menschentypen geraten, immer vor denselben Problemen stehen und immer dieselben negativen Erlebnisse machen. Wie können wir uns davon befreien? Indem wir z.B. das allgemeine WT-Prinzip „Befreie dich von deiner eigenen Kraft" anwenden, denn die Freiheit zu wählen, was für ein Mensch wir sein wollen, gehört zu unseren Geburtsrechten. So wie wir körperlichen Angriffen auf die verschiedenste Weise begegnen können, können wir auch auf die Äußerungen des Lebens in vielfältiger Weise reagieren, wenn wir uns von unseren alten Lebenseinstellungen und Überzeugungen befreit haben. Wir können anders sein, unser Denken, unsere Gefühle und unsere Handlungen werden anders sein, dann werden die Menschen uns anders behandeln, und unser ganzes Leben wird anders sein! Die Natur hat uns nicht als komplette, fertige Wesen in die Welt gesetzt, sondern nur zu dem Grade entwickelt, der für die Belange der Natur nützlich ist. Wir sind wie ein Haus, dessen Dachgeschoss nicht ausgebaut übergeben wurde. Der weitere Ausbau, unsere weitere Entwicklung ist unsere eigene Angelegenheit, denn wir sind – auf eine gewisse Weise – uns selbstkreierende, selbst erhaltende, selbstheilende und selbstorganisierende Lebewesen. Wir können uns weiter (höher) entwickeln oder es sein lassen und so leben und sterben, wie wir in die Welt hineingeboren wurden, der Natur ist das egal. Wir Menschen haben als mögliche Zukunftsperspektiven Stagnation (alles bleibt wie es ist), Degeneration (es wird schlimmer) und Evolution (höhere Entwicklung). Können wir uns unser Schick-sal also aussuchen oder können wir es gar selbst schaffen und zum Mach-sal werden lassen? Wenn ansonsten intelligente Menschen sich nicht verändern, dann deshalb weil sie sich nicht verändern wollen. Es mag wohl sein, dass sie sich ändern möchten, dass sie den Wunsch haben, aber die nötige Kraft, die nötige Energie, es mit aller Macht zu wollen und die unerlässliche Anstrengung dazu aufzubringen, haben sie nicht. Es gebricht also in erster Linie an der nötigen Energie, an der Willenskraft. Deshalb ist es ein wichtiges Etappenziel im inneren WT, echten Willen zu entwickeln. Leider haben wir Menschen, so wie wir sind, nicht einmal eine kleine Idee davon, was „echter" Wille ist. Wir verwechseln „Willen" fast immer mit Eigenwillen, mit fußaufstampfenden Trotzreaktionen, mit Durchsetzungsvermögen, mit mechanischem Nein-Sagen zu Dingen, die uns nicht gefallen. Ohne den richtigen Willen, uns in unserer Hässlichkeit und Schwäche zu erkennen, wie wir sind, und uns von alten Gewohnheiten, Einstellungen und (Körper-) Haltungen zu befreien, wird das Werk nicht (dauerhaft) gelingen, da wir selbst Widerstände entwickelt haben, mit denen wir verhindern wollen, dass sich unsere Kernüberzeugungen verändern. Das zweite und wohl größte Hindernis zur individuellen Höherentwicklung (denn nur für solche Veränderung interessieren wir uns) ist, dass wir in der falschen Vorstellung leben (die im übrigen von der Natur aufrechterhalten wird), dass mit uns alles OK ist, dass wir alle liebenswerte, gütige Personen sind, dass wir nur geringe Detailänderungen brauchen. Wir bilden uns ein, wir hätten all die Fähigkeiten schon, die es erst noch zu entwickeln gilt, wenn man wirklich ein neuer Mensch werden will mit einem neuen Wesen, das nicht immer wieder dasselbe „Schick-sal" anzieht. Wir bilden uns z.B. ein, über einen starken Willen zu verfügen, ohne zu wissen, was „Wille" wirklich ist. Wer aber glaubt, eine Fähigkeit schon zu besitzen, der wird keine Anstrengungen machen, um sie sich anzueignen. Deshalb steht am Anfang des WT ja auch die Forderung, seine Tasse zu leeren und mit einer völlig neuen und kleinen Idee (Siu Nim Tau) anzufangen. Wer vorher z.B. Karate oder Ju-Jitsu gemacht hat, wird dies als eine neue Geburt empfinden, er muss sich von alten, liebgewohnten Vorstellungen und Illusionen trennen. Desillusionierung ist als Enttäuschung mit negativen Gefühlen, Trauer und bitterem Beigeschmack belegt. Aber in Wirklichkeit könnte uns nichts Besseres passieren als ent-täuscht zu werden. Sich selbst ent-täuschen (z.B. über seine vermeintlichen Fähigkeiten) ist ein Befreiungsakt im Sinne der WT-Forderung: „Mach dich frei von deiner eigenen Kraft". Ent-täuschung ist etwas Positives, das zur Befreiung von Fesseln führt, die wir uns selbst angelegt haben. Wenn uns aber jemand von diesen gewohnten Fesseln befreien will, sind wir nicht etwa froh und dankbar, sondern reagieren mit negativen Gefühlen, weil wir uns schon so mit diesen Fesseln angefreundet haben, dass sie Teil von uns sind und wir uns nicht von ihnen trennen wollen. Paradoxerweise fühlen wir uns mit unseren Fesseln sicher! Und tatsächlich fühlen wir uns in unserem Gefängnis vor Ent-täuschungen sicher! Aber dieses Gefängnis besteht nur in unserer Einbildung, es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem, der erkannt hat, dass er in einem Gefängnis sitzt, und dem, der es nicht einmal weiß. Denn nur wer sich über seinen Zustand im klaren ist, wer sich selbst erkannt hat, kann sich befreien! Um aber aus unserem Gefängnis auszubrechen, brauchen wir Führer, also Leute, die selbst schon mit Erfolg ausgebrochen sind, nur diese können uns mit Ausbruchswerkzeugen, Tricks, Wegbeschreibungen und aufmunternden Ratschlägen helfen. Das Problem liegt darin, dass wir schon in unser Gefängnis hineingeboren werden, denn unsere Eltern haben ihr ganzes Leben auch schon darin verbracht. Und unsere Erziehung und Schulbildung tat ihr übriges, um die Wände unseres Gefängnisses immer höher werden zu lassen. Aus diesem Grunde ist eine Art „zweiter Bildungsweg" nötig, der uns lehrt, wie wir unseren beklagenswerten, aber nicht hoffnungslosen Zustand erkennen und – den WT-Befreiungs-Prinzipien folgend – entkommen können. Aber der Wunsch, sich zu befreien, muss vom Einzelnen selbst kommen, niemand kann zwangsweise befreit werden, niemand kann gegen seinen „Willen" zum Verständnis geführt werden. Und es ist besser, wenn jemand zufrieden und unwissend im Gefängnis bleibt, als wenn er zwischen Stamm und Borke, oder um bei unserem Bild zu bleiben: in der Gefängnismauer stecken bleibt. Wer nicht stecken bleiben will oder wer nicht auf halbem Wege abbrechen will, der braucht mehr Energie. Die gewinnt man aber u.a. durch sich Erkennen, sich seiner bewusst Werden und durch Transformation im taoistischen Sinne. Aber solange wir uns über uns selbst täuschen, uns Pseudo-Fähigkeiten zuschreiben, die nur in unserer Einbildung existieren, können wir uns nicht erkennen. „Erkenne dich selbst" muss jeder Änderung vorausgehen, wer nicht weiß, wo sein Auto rostet, wird kaum eine vernünftige Restauration bewirken und nur die Rostbeulen überlackieren, statt von Grund auf eine Veränderung (Siu Nim Tau) einzuleiten. Ohne innere Achtsamkeit, ohne sich selbst zu beobachten, ohne sich kennenzulernen, ohne seine äußeren und inneren Verspannungen zu erforschen und aufzulösen, kann man sich nicht ändern. Nur wer seine äußere und innere Haltung und Einstellung und damit seine inneren Grundüberzeugungen durchschaut hat, hat die Möglichkeit, sich zu wandeln. Wer nicht weiß, was ihn wirklich antreibt, wird immer wieder auf gleiche Weise nach alter Gewohnheit reagieren. Nur wer aufmerksam und wach ist und weiß, was er tut, kann das tun, was er will. Die Frage muss also nicht lauten:

„KANN sich jeder verändern?" Auch nicht: „WOLLEN wir uns ändern?" Sondern: „WIE KÖNNEN wir uns ändern wollen?" Durch Arbeit an uns, durch Kampf mit uns selbst. Aber ein innerer Kampf, bei dem wir am Ende Sieger bleiben, weil wir dazu die in der Körperarbeit erfahrenen klugen WT-Grundsätze (Informationen verschaffen, keinen Widerstand leisten, nachgeben, Kraft borgen usw.) benutzen. Ich behaupte nicht, dass nur der Weg des inneren WT zur Änderung führt, tatsächlich führen viele Wege dorthin, aber die WT-Strategie ist nicht nur im äußeren Kampf diejenige, die zum schnelleren und dauerhaften Sieg führt!

Keith R. Kernspecht

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.