Editorial

Man muss das kritisieren, was man liebt!

Allzu viele erstarren in Ehrfurcht vor der Genialität des WT und trauen sich nicht, auch nur ein Jota von den Formtechniken abzuweichen. Sie gehen davon aus, dass ein System, das so genial wie WT ist, von einem einzigen noch genialeren Schöpfer erschaffen worden sein müsse ...

Diese Leute hängen dem verbreiteten – aber deshalb nicht notwendigerweise richtigen – Glauben an, es müsse immer einen noch größeren Denker geben, um etwas Großes zu erzeugen; denn durch Zufall, etwa durch Tierbeobachtung, kann so etwas Komplexes wie WT doch kaum entstanden sein.
So wie – entgegen der Erfahrung – angenommen wird, dass ein großer Kämpfer einen noch überragenderen Kämpfer als Lehrmeister gehabt haben muss – denn von nichts kommt ja nichts –, so wird auch geglaubt, dass unser geniales WT von einem noch genialeren Denker konzipiert wurde.
Wenn man denn den schönen Märchen von der Beobachtung kämpfender Schlangen, Füchse, Affen oder Kraniche keinen Glauben schenken will, bleibt ja wirklich nur noch ein(e) allmächtige(r) Schöpfer(in) wie Ng Mui oder Yim Wing Tsun.
Dass es noch eine Alternative zwischen Zufall und genialer Schöpferin gibt, kommt den meisten gar nicht in den Sinn.
Dem Autor schon – zumindest, wenn er an die heute noch existierenden erschreckend primitiven Ursprungsstile denkt, aus denen WT entstanden sein soll.
Steht man vor dem gewaltig beeindruckenden Gebäude unseres WT, wie es sich heute darstellt, dann kann man nicht glauben, dass ein anderer als ein Genie von nichts Vorhandenem, wie von null auf hundert, auf diese Höhe gelangte.
Würde er aber zur Rückseite des Gebäudes gehen, könnte er erkennen, dass dort tausende von Gerüsten stehen, auf denen ebenso viele verschiedene Erbauer in tausenden von Jahren dieses wie aus einem Guss erscheinende Kunstwerk nach der Methode „Versuch und Irrtum“ erstellten.
WT ist wie Rom nicht an einem Tag erschaffen worden und es nicht dem einen genialen Schöpfer, sondern vielen – durchaus durchschnittlichen – Müttern und Vätern geschuldet.

Wir müssen also nicht in ergriffener Ehrfurcht vor der Genialität des Schöpfers des WT erstarren. Wir dürfen ohne fromme Scheu ebenso handeln wie unsere Altvorderen. Wir dürfen ändern, was sich als unangepasst erweist, und hinzufügen, was fehlt.
Und wir dürfen WT auch kritisieren;
denn man muss das kritisieren, was man liebt!

Am 7.11.2007 mailte mir mein Si-Fu unter anderem:
„Wenn jemand eine viel bessere Kampfmethode als ich unterrichtet, würde ich sofort wechseln.“

Ich finde diese freimütige Aussage meines Meisters, die deutlich zeigt, dass es ihm im Grunde nur um Wirksamkeit geht und ihm die Tradition verblüffenderweise gleichgültig ist, anspornend und ermutigend für uns alle, die wir unser WT durch wissenschaftliche Forschung immer weiter verbessern wollen!

Und hier noch ein berühmtes Zitat, diesmal von einem Japaner:
„Wer einen Meister in der Ausübung seiner Kunst beobachtet und ihm zuhört und daraufhin schließt, er könne es nie soweit bringen, ist ein Schwächling.“
Hagakure, Der Weg des Samurai
von Tsunetomo