Editorial

Regeln für stressfreies taktiles Reaktionstraining

Im gemeinsamen menschlichen Miteinander müssen gewisse Regeln eingehalten werden, damit das Zusammenleben funktioniert. Das gemeinsame WingTsun-Training macht da keine Ausnahme. Deshalb habe ich in meinem Buch Kampflogik 3 diese Thematik aufgegriffen und ein Kapitel dazu eingefügt. Wenn wir auch im Kampf zur Selbstverteidigung an keine Regeln oder Techniken gebunden sind, beim Training mit unserem Partner müssen gewisse Verhaltensregeln eingehalten werden. Schließlich wollen wir kontinuierlich trainieren können und nicht ständig durch irgendwelche trainingsbedingten Verletzungspausen außer Gefecht gesetzt werden.

Wenn jemand in unsere ChiSao- oder ReakTsun-Klassen kommt, betritt er eine Welt, in der Worte und Bewegungen eine andere Bedeutung haben als im Alltag. Das ist dem Neuen nicht unmittelbar einsichtig, aber auch oft nicht dem Lehrer. Die Verständigungsrituale in solchen speziellen Klassen sind verschieden von der normalen Kommunikation. Das Training setzt aber stillschweigend die Kenntnis von Vereinbarungen und Regeln voraus. Der Lehrer und der ältere Mitschüler (SiHing) erwarten, dass der Schüler die bisher ungeschriebenen Regeln kennt und befolgt.

ChiSao – ob mit einem Mitschüler oder dem Lehrer – ist irgendwie immer eine brisante Angelegenheit: Man begibt sich in die intime Distanz mit einem anderen, verletzt dessen Territorium oder fühlt seines durch Grenzüberschreitung gefährdet.
Schauen noch andere dabei zu, hat unser verletztes Selbstbild noch mehr Grund, sich zu Wort zu melden. Aber auch das Ego unseres Gegenübers wird erwachen …

Hier nun die Regeln, wie man die gefährlichen Klippen des ChiSao- oder auch ReakTsun-Trainings umschifft. Oder auch wie man dem anderen verzeihen kann, indem man – Konfuzius folgend – von der Gleichheit der Menschen ausgeht und dem anderen zubilligt, ebenso von Emotionen geleitet zu sein, wie man selbst.

ChiSao- bzw. ReakTsun-Etikette

Mit Mitschülern

Der andere ist unser Partner

Das Gegenüber ist nicht unser Gegner, denn ChiSao ist kein Kampf, sondern eine Übung, durch die zwei Menschen ein gemeinsames Ziel erreichen wollen: mehr Sensitivität, mehr Tastsinn zu erlangen.

Das Ideal

Eine Fliege sollte nicht auf uns landen können, ohne dass wir es merken. Wenn sie auf der Handfläche landet, sollte sie unsere Hand dadurch bewegen (konkav machen).
Eine Fliege sollte nicht von unserer Handfläche starten können, ohne dass wir es ihr erlauben. Wenn sie sich zum Start abstoßen will, sollten wir nachgeben können.
Dieses ist eine Idealvorstellung, die wie jedes Ideal nie erreicht wird.

Mit richtig gemachtem ChiSao-Reaktionstraining entwickeln wir sieben Fähigkeiten

• Aufmerksamkeit
• Beweglichkeit, Lockerheit, Agilität
• Koordination, Körpereinheit = die Fähigkeit, alle Kraft in eine Bewegung zu legen
• Balance
• Sensitivität des Gesamtkörpers, Distanzgefühl
• Entschlusskraft, Fighting Spirit
• Timing
   Timing mag vielleicht nicht alles sein, aber alles ist nichts ohne Timing!

ChiSao und jede Art von Wettbewerb sind ein Widerspruch

Bei einem Wettstreit wird jeder der Kämpfer (auch wenn er es nicht zugibt) von der Sorge beherrscht, getroffen zu werden und nicht selbst treffen zu können. Das erzeugt Stress, Angst und Aktionismus. In einer solchen Atmosphäre ist es nicht möglich, die oben genannten sieben Fähigkeiten zu erwerben.

Das große Lernziel heißt Adaptation (Anpassung an die Form des Angriffes), das bedeutet Nachgeben. Dazu gehört Vertrauen: Vertrauen, dass das Konzept funktioniert, Vertrauen, dass es erlernbar ist, und Vertrauen, dass der Partner unsere ersten Versuche des Nachgebens nicht enttäuscht und ausnutzt; denn es dauert eine ziemlich lange Zeit, bevor sich das Investieren in Schwäche zur Stärke auswirkt. Am Anfang steht der Frust, auf etwas verzichten zu müssen, mit dem man sich behaupten könnte: Kraft und Widerstand. Am Anfang wird man von der primitiven Kraft der anderen herum geschubst. Erst nach langer Zeit innerer Entwicklung wird Schwäche zur wahren Kraft, gegen die Widerstand dann zwecklos ist.

Wir sprechen von einem Prozess, der Jahre dauert. Viele machen hier den Fehler, sich drillmäßig etwas Nachgeben anzueignen, wie einen Trick. Dieses kombinieren sie dann mit persönlicher Schnelligkeit, Fitnessstudio-trainierten Muskeln und einer aus Angst geborenen Aggressivität. Und fertig ist der Albtraumpartner jeder ChiSao-Stunde, der sich und dem anderen nur beweisen will, dass er überlegen ist. Er glaubt, dass er besser ist als der andere, weil er sich durch Aktivität (!) vor dem Getroffenwerden schützen bzw. den anderen treffen kann. Er wird diese scheinbare Überlegenheit leider auch etliche Jahre bewahren können, indem er in Sperren, Festhalten, Wegdrücken und Finten investiert, statt dass er den Bewegungen des anderen folgt. Wir sagen „leider“, weil er seinen eigenen Fortschritt damit beendet hat. Er versteht die „Absichtslosigkeit“ nicht. Er hat sich selbst in eine Sackgasse manövriert, aus der ihn sein Ego nicht mehr herauslässt.

Tatsächlich geht es beim ChiSao gar nicht ums Abwehren und im LatSao nicht ums mit Absicht Angreifen, sondern darum, den entspannten Glückstreffer des Laien methodisch zu üben und regelmäßig möglich zu machen: die absichtsvolle Absichtslosigkeit, die bewusste Unbewusstheit. „Es“ wird das alles für uns tun, wir müssen „Es“ nur geschehen lassen, entspannen halt … Aufgrund unserer Vorbereitung brauchen wir nur die Möglichkeiten zu nutzen, die sich von selbst anbieten.

Es gibt sogar Schüler mit hohem Lehrer- oder gar Meistergrad, die in obiger Falle sitzen und sich unerreichbar für Rettungsversuche gemacht haben. Wenn man ihnen ihren Irrtum zeigen will, werden sie schneller, strampeln sich ab, um einen zu sperren, oder springen zurück, um etwas zu verhindern, was sie zulassen müssten, um weiter wachsen zu können.
Gefangen von Stolz und Angst und ohne Besinnung darauf, was WT eigentlich bedeuten könnte, werden sie nie weiterkommen, wenn sie weiter auf Widerstand setzen, um ihre Essenz durch einen Panzer zu schützen. Sie müssten ihr ganzes Denken verändern, statt nach der unbekannten Kombination oder dem nächsten geheimen Kampf-Tanz zu fragen. Sie müssten sich verändern.

Aus gutem Grunde hatte ich vor etlichen Jahren mein Gewicht und damit meine Muskelmasse um fast 30 kg reduziert, bis ich Anfang 2007 unter 69 kg wog. Dieser Verzicht auf Kraft hat mein WT völlig verändert und damit meine Wirksamkeit. Der Verzicht auf Körperkraft erwies sich als die beste Investition!
Erst muss man die Kraft aufgeben und darauf vertrauen, dass die WingTsun-Prinzipien am Ende ihre Wirkung tun. Zeigen sich – nach langer Zeit und Frustration – die ersten Erfolge (und die bleiben nie aus!), dann kann man noch weicher werden, weil man weniger Angst hat. Wenn man noch weicher wird, wird man noch erfolgreicher. Ein positiver Kreislauf, der größte Befriedigung bringt.

Auszug aus meinem Buch Kampflogik3, EWTO-Verlag 2011

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht