Editorial

So werden wir mit verbalen Angriffen fertig!

Vor einiger Zeit fragte mich ein Leser meines Buches „BlitzDefence – Angriff ist die beste Verteidigung“, wie man sich im „Pre-Fight“ (in der verbalen Phase) gegen nichtkörperliche Angriffe schützt und ob das WingTsun-System auch dort Lösungen anzubieten habe.

Da körperliche Angriffe oft die Fortsetzung verbaler Aggressionen eben mit körperlichen Mitteln sind, müssen wir uns als WT-Anwender, die den sinnlosen Kampf nach Möglichkeit vermeiden wollen, mit ihren Gesetzmäßigkeiten beschäftigen.

Grundsätzlich greifen bei verbalen Angriffen dieselben WT-Prinzipien wie bei physischen Angriffen, so dass ich einige von ihnen hier aufzählen möchte.

Während es bei der körperlichen Selbstverteidigung darum geht, dass z.B. der Fauststoß des anderen uns nicht erreicht, gilt es gegenüber sprachlichen Angriffen, sich nicht von den Worten des anderen treffen zu lassen.
Eigentlich ist dies viel leichter, denn während wir vom Fauststoß des Gegners getroffen werden, wenn wir uns nicht schnell genug bewegen, müssen wir uns gegenüber den Worten des anderen überhaupt nicht bewegen.
Wir allein entscheiden, ob wir (verbal) getroffen worden sind. Wenn seine Worte unser psychisches Gleichgewicht so gestört haben, dass wir uns provozieren lassen und unsere Wut nicht kontrollieren können, dann hat er einen Treffer erzielt. Merke: „Es ist unmöglich, jemandem ein Ärgernis zu geben, wenn er es nicht nehmen will.“

(Friedrich v. Schlegel)

WT-Prinzip: Nicht gegen etwas angehen!

Genauso wenig wie wir uns im WT auf einen Schlagabtausch (Sparring) einlassen, kontern wir mit schlagfertigen Widerworten, die nur Energie kosten und den Streit unnötig verlängern oder gar ins Körperliche eskalieren lassen. „Zanke nicht mit einem Schwätzer, dass du nicht Holz zutragest seinem Feuer.“ (Jes. Sirach 8,4 )
Stattdessen konfrontieren wir den Aggressivling z.B. mit absurdem Verhalten, indem wir ihn wie eine Frohnatur anstrahlen: „Genau, sag ich auch immer, ganz meine Meinung!“ erwidern, ihm zuwinken und zügig weiter- und weggehen, wobei wir den Verblüfften zurücklassen.

WT-Prinzip: Den Angriff ins Leere gehen lassen!

Streiten wir kritische Bemerkungen also nicht ab und reagieren wir auch nicht mit Gegenkritik, sonst würden wir nur mit gleicher Münze zurückzahlen, wie es jeder Laie mechanisch machen würde. Der Aggressor muss bei unserer Entgegnung das Gefühl haben, in einen kaum durchsichtigen Vorhang zu schlagen, der mit dem Schlag zurückgeht und nicht zurückschlägt. Was der Gegner auf uns schleudert, prallt nicht von dem Vorhang ab, so dass er es nicht wieder neu gegen uns verwenden kann.

WT-Prinzip: Versuche nicht den Gegner wegzudrücken, drücke Dich selbst weg!

Versuchen wir nicht, ihn zu überzeugen oder zu ändern! Genauso wenig wie wir im körperlichen WT versuchen, den körperlichen Angreifer von seinem Ziel abzubringen oder seinen Arm wegzudrücken, versuchen wir in der verbalen Selbst-Verteidigung gar nicht erst, den anderen von seinem Unrecht zu überzeugen oder ihn zu einem besseren Menschen machen zu wollen. Im körperlichen WT verändern wir unsere Position, statt, was viel schwieriger ist, den Angreifer wegdrücken zu wollen. Ebenso wenig versuchen wir, den Gegner zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Die anderen Menschen lassen sich nicht verändern. Nur wir selbst können uns verändern, wenn wir denn wirklich wollen.

Außerdem stehen die Aggressoren, mit denen wir es in der Praxis zu tun haben, oft unter Alkohol oder Drogen, so dass es selten Sinn hat, auf den Aggressivling verständnisvoll eingehen zu wollen. Da die rechte Gehirnhälfte durch Alkohol schneller betäubt ist, wird unser Gegenüber Schwierigkeiten haben, unseren emotionalen Sprachton richtig zu beurteilen, und er wird humorvolle und ironische Bemerkungen wörtlich verstehen.

WT-Prinzip: Schützen wir unsere Mitte!

Damit der Kontrahent unser körperliches Gleichgewicht nicht stören kann, müssen wir unser Zentrum kennen und schützen.
Damit unser psychisches Gleichgewicht nicht gestört werden kann, müssen wir unser inneres Zentrum, unseren wahren Kern, finden, erfahren und schützen. Wir müssen uns hermetisch versiegeln!
Unsere keilförmig positionierten Arme schützen – wie ein Zaun den Vorgarten – vor unserem Haus. Unsere selbstsichere Ausstrahlung setzt dem anderen wie ein unsichtbares Schutzschild Grenzen.

Wenn wir die Eskalation der Gewalt (vom Blick über die verbale Anmache zur körperlichen Gewalt) voraussichtlich nicht unterbrechen können, obwohl wir uns bemühten, gilt zur Vermeidung von Anflügen von eigener Angst das Folgende:

WT-Prinzip: Richte Deinen Angriff auf die Mitte des Gegners, verfolge nicht die Arme!

Dringen wir gegen den inneren Kern des anderen vor!
„Hab’ ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.“
(Wallenstein in Schillers Wallensteins Tod 2,3)

Unsere Arme gehen in Richtung des Kerns, der inneren vertikalen Mittellinie („Dochtlinie“) des Gegners vor. Unsere Worte (geistige Energie) dringen durch die Oberfläche zum Kern (Herz, Verstand) des anderen vor.

Körperlich gilt: Unsere Arme bewegen sich dabei auf der imaginären Mittellinie, der sog. kürzesten Entfernung zwischen unserer und der „Mitte“ unseres Gegners. Wenn wir der Zentrallinie folgen, dem „mittleren Pfad“, der uns mit unserem Gegner verbindet, kann der Gegner nicht an uns vorbei, es sei denn, wir treten zur Seite und lassen ihm den Vortritt.

Auch unsere Konzentration darf feindliche, negativ beeinflussende, lähmende Angst, die uns der Aggressor in Form von Worten und Gedanken wie Pfeile ins Herz schießen will, nicht passieren lassen. Auch hier gilt das physikalische Prinzip: wo ein Körper sich befindet, kann kein anderer sein. Für mich haben Gedanken auch eine stoffliche Qualität, halt nur feiner. Und es kann stets nur ein Gedanke in unserem Kopf Platz haben. Den des Gegners sollten wir nicht hereinlassen. Wie ununterbrochene Kettenfauststöße müssen unsere positiven Gedanken ohne Lücke nach vorne drängen.
Ähnlich wie die keilförmig vordrückenden Arme des WT-Anwenders die Arme des Gegners muss unser Energiefluss negative Gedanken ablenken. (Falls sie schon in unser Bewusstsein eingedrungen sind, wird eine Art mentale „3. Form“ nötig, um sie wie ein Exorzist wieder daraus zu vertreiben.)
„Deshalb zwingt der kluge Kämpfer dem Feind seinen Willen auf, aber er erlaubt es seinem Feind nicht, ihm seinen Willen aufzuzwingen.“
(Sun Tsu, Die Kunst des Krieges)

Im September-Editorial werde ich Euch dann Vorschläge und Anwendungsbeispiele für die Umsetzung der körperlichen Kraft- und Kampfprinzipien in die 3. Ebene des WingTsun geben.

Noch weiter schöne Sommertage, wo immer Ihr Euch aufhalten möget!

Euer
Keith R. Kernspecht

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.