Editorial

Von Salzstreuern, Ellenbogenmenschen und solchen, die andere mit Gewalt überreden wollen.

„Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu!“
Konfuzius postuliert sie vor 2.500 Jahren in seiner berühmten Lehre von Maß und Mitte (Dschung Yung), der Volksmund kennt sie und die Bibel formuliert sie (in unverneinter Form): Ihr habt es erkannt, ich spreche von der sogenannten „Goldenen Regel“.
Wer aber versteht diese Universaltechnik des harmonischen Miteinanderlebens wirklich und wer kann ihr dauerhaft folgen?

Heute will ich eine Einstellung, eine Verhaltensweise beschreiben und anprangern, die mir persönlich gegen den Strich geht. Ob ich selbst davon frei bin, andere damit zu belästigen, will ich dahingestellt lassen. Tatsächlich verbirgt ja ein gnädiger Schleier uns davor, unsere eigenen Schwächen zu sehen. Wir sehen nur den Balken im Auge des anderen, unsere eigenen Macken, so klar sie auch anderen erscheinen mögen, sehen wir nicht. Dass gerade dieses Hindernis es uns schwer macht, uns zu ändern, habe ich an anderer Stelle dargestellt. Oft erhalten wir Hinweise auf unsere eigenen Fehler, indem wir merken, dass wir besonders heftig auf bestimmte Verhaltensweisen bei anderen ansprechen. In diesem Augenblick haben wir die Chance, uns wie in einem Spiegel zu sehen. Das was wir dem anderen vorwerfen, ist oft unsere eigene Schwäche, die wir nicht bei uns, wohl aber beim anderen erkennen können!
Ganz besonders unangenehm sind mir Menschen, die versuchen wollen, mich zu „über"-reden. Und ärgerlich macht es mich, wenn mir ein ausgemachter Egoist die Sache mit fadenscheinigen Gründen als für mich vorteilhaft „verkaufen" will, denn damit zeigt er mir auch noch zusätzlich, dass er meine Intelligenz gering schätzt.
Der andere ist von seiner Ansicht oder von sich überzeugt, hat nur eine Art, die Dinge zu sehen und hält sie, besonders weil es ja „seine" ist, für die einzig richtige. Er missachtet die Meinung anderer Menschen, hält alle anderen für dumm und ihre Interessen für weniger wichtig als seine eigenen. Im Extremfall schenkt er ihnen überhaupt keine Beachtung. Er geht grundsätzlich davon aus, dass nur er weiß, wo es langgeht, misstraut grundsätzlich jedem anderen und spricht ihm die Kompetenz von vornherein ab. Wenn solch ein Banause in ein Restaurant eingeladen wird, so gut es auch sein mag, schüttet er, wenn ihm die Suppe kredenzt wird, ohne vorher zu kosten, Salz hinein. Man hüte sich vor solch einem Gewaltmenschen und gehe ihm weiträumig aus dem Wege, denn er ist ohne Taktgefühl, bar jeden Einfühlungsvermögens. Er traut nicht nur nicht dem Restaurant, er hält auch den Gastgeber für inkompetent, ein vernünftiges Lokal auszuwählen. Er beleidigt damit beide und disqualifiziert sich selbst. Niemals würde ich solch einen Menschen einstellen, wenn ich denn die Wahl hätte. Wenn ein solcher Typ WingTsun macht, mag er der größte Chi-Sao-Experte sein, aber sein Mangel an Empathie und Fingerspitzengefühl offenbart, dass er das körperliche WingTsun (1. Ebene) nicht im täglichen Leben (3. Stufe) umsetzen kann. Schon „Cham-Kiu" bedeutet Aufnehmen des Kontaktes mit dem anderen und Chi-Sao ist ein Hineinfühlen, ein Sichhineinversetzen in den anderen. In Konfuzius‘ Sinn bedeutet es, die Gleichheit und Verwandtschaft mit dem anderen zu erkennen (Shu) und ihm nicht das anzutun, was man selbst nicht mag. Sozusagen die in China sonst nicht gepflegte Form der christlichen Nächstenliebe.
Was ist von einem zu halten, der einen Fauststoß auf sich zukommen sieht und mechanisch (und in vorauseilender Reaktion) Bong-Sao macht? Kann man diesen als tüchtig oder gar als Meister bezeichnen? Schrieb ich nicht schon vor über fünfzehn Jahren im „Vom Zweikampf", dass Antezipation gefährlich, weil fintenanfällig ist? Lernt in der EWTO nicht schon der Anfänger, dass man erst seinen Man-Sao vorschiebt, Kontakt aufnimmt und fragt und prüft, bevor man in harmonischem Einklang sich der Energie des gegnerischen Armes anpasst und das Nötige, z.B. Bong-Sao, geschehen lässt.
Auf welcher Stufe steht nun einer, der, ohne vorher zu prüfen, gewohnheitsmäßig Salz in seine Suppe schüttet, seine Gesundheit damit gefährdet und (letztlich zu seinem eigenen Nachteil) das Restaurant und den Gastgeber beleidigt? Solch ein Ellbogenmensch wird sich auch nichts dabei denken, nicht nur unschuldigen Suppen, sondern auch seinen Mitmenschen mit primitiver Gewalt zu begegnen. Zum Beispiel, indem er ­ seinem Charakter folgend, den er für seine Erfolgsstrategie hält, andere gewohnheitsmäßig überredet. Den anderen überreden zu müssen, ist eine Schwäche wie Geiz, Neid oder Faulheit. Dennoch hält derjenige, der ihr Sklave ist, ebenso wie manche leidtragenden und autoritätssüchtigen Opfer diese Schwäche für eine besondere Charakterstärke. Die krankhafte Tendenz andere zu überreden (ich spreche nicht von über-„zeugen") tritt in zwei Formen auf:
1. Zum einen in ihrer brutalsten Erscheinungsform, wie sie von besonders primitiven und ungeschliffenen Gesellen, die oft selbst erziehungsresistent waren, aber anderen befehlen wollen, eingesetzt wird: Der unkultivierte Überreder drängt und zwingt den anderen, ihn anzuhören, mit ihm übereinzustimmen und nach seinem Willen zu handeln. Widrigenfalls wird er sehr unangenehm, nervig, laut, beschwert sich bei anderen, fängt Streit an, verbreitet Gerüchte und Drohungen, in der Annahme, dass sie am Ende zum Opfer gelangen und Wirkung erreichen. Meist nimmt dieser ungehobelte Klotz eine höhere Stellung ein oder hat mehr Durchsetzungskraft (die er und andere mit echtem „Willen" verwechseln). Leider wird solch ein Grobian immer wieder durch das Einlenken und Nachgeben feiner und zivilisierter Menschen, denen Charakter und Herzensbildung verbietet laut zu werden, ermutigt, so dass er diese Methode oder Strategie beibehält. 2. Die Neigung zum Überreden existiert aber auch in einer verfeinerten und raffinierteren Form. Sie nutzt dazu den Harmoniewunsch, die Höflichkeit, Freundlichkeit und Güte des anderen, sie appelliert an Großzügigkeit, will Schuldgefühle verursachen und durch Geschenke bestechen, um ihren Willen durchzusetzen.
Auf diese Weise erreicht der Überreder, dass der andere ­ gequält lächelnd und falscher Freundlichkeit folgend ­ tut, was er will. Zumindest dieses Mal und vielleicht auch noch ein paar weitere Male.
„Arcus nimis tentus rumpitur". Irgendwann, sagt das lateinische Sprichwort, bricht der allzu straff gespannte Bogen und selbst der Geduldigste platzt vor angestautem Frust.
Aber bis es soweit ist, zahlt sich die Strategie des Überredens aus, zumindest in der 2. Ebene. In der 3. Ebene (wo es um den inneren Kampf mit sich selbst geht) aber ist die Tendenz zum Überreden ein unüberwindliches Hindernis, um sich zu einem neuen Menschen innerlich weiterzuentwickeln. Sich selbst zu beobachten, seine Schwächen zu erkennen und von sich auf andere zu schließen, um den anderen und seine Würde zu respektieren, auf seine Gefühle Rück-sicht zu nehmen, sich also umzugucken, ob unser Verhalten ihn nicht verletzt, sind die ersten Arbeitsschritte. Wir müssen daran arbeiten, einfühlsam auf unsere eigenen Wünsche zu verzichten, wenn wir damit dem anderen Gewalt antun würden. Auch ein penetrantes Bedrängen, ihn zu zwingen, uns über Gebühr lange zuzuhören oder ihm ein Thema, das ihn nicht interessiert, aufzuzwingen und seine Lebenszeit zu stehlen, ist in diesem Sinne Gewalt. WingTsun ist, so paradox es klingen mag, im Grunde gewaltlos. Nicht wir versuchen den Gegner oder seine Absicht zu verändern, sondern uns und unsere (Ein-)Stellung und Denkweise (Meta-noia). Wir drücken nicht seinen Arm weg, sondern uns selbst. Ich weise oft daraufhin, dass die sog. „inneren" vom Taoismus beeinflussten Selbstverteidigungsarten wie Tai Chi, Ying I, Pakua, aber auch eigentlich Aikido und Judo vom Konzept her an der Gewaltlosigkeit orientiert sein sollten. Praktisch heißt das: Lehnt sich der andere vor oder schubst er mich, ziehe ich ihn. Lehnt er sich zurück oder zieht er, folge ich. Lässt er eine Lücke, dringe ich in diese ein wie Wasser. Ungeduldige, vom Aktionismus beherrschte Zeitgenossen ohne Einfühlungsvermögen und Tastsinn, also solche, die auch sonst niemand zuhören können und aussprechen lassen, die Jasager lieben und deshalb niemals erfahren, in welcher Situation sie sich befinden, benutzen hier lieber die Gewalt. Sie benutzen zwar oberflächlich WingTsun-Techniken, aber innerlich verachten sie die ewig wahren Prinzipien des WingTsun, weil sie ihrem Ellbogenmenschen-Naturell widersprechen. Deshalb dringen sie nicht wie Wasser in sich auftuende Öffnungen ein, sondern schaffen sich mit Gewalt selbst eine Öffnung. Deshalb folgen sie nicht, weil der andere sich zurücklehnend zieht, sondern sie stoßen selbst. Deshalb ziehen sie den anderen nach vorne, wenn sie den Zugangriff mit Handflächenstoß aus der ersten Sektion Chi-Sao machen, statt dass sie diese „Technik" bei sich bietender Gelegenheit einsetzen.
Blind, gefühllos und desinteressiert am Zustand und an den Wünschen des anderen, warten sie nicht, bis der andere seine Tendenz zeigt und Impulse gibt, die sie dann fortführen und ergänzen, sondern sie ziehen mit Gewalt ihre vorher geplante Aktion stereotyp durch. Ihre Technik mag noch so knackig wirken, ihre Ausführung mag Zuschauer in ihrer technischen Brillanz und „Eingeschliffenheit" beeindrucken, dennoch handeln solche Gewaltmenschen nicht wirklich nach den philosophischen Prinzipien des WingTsun.
Leute, die so handeln, rechtfertigen sich, indem sie stolz von sich sagen, sie reagieren nicht auf die Ereignisse, sondern schaffen selbst die Gelegenheit, wo sie „ihre" vorgeplante Lieblingstechnik einsetzen können. Den falschen Weg weiter verfolgend, werden manche dann sogar ihre Muskelkraft mit erheblichem Zeitaufwand stärken, um mit Gewalt nicht wirklich stimmige und passende Techniken „anzupassen".
Dies auf die Spitze getrieben, ist Kampf-„Sport". Seien wir auf der Hut, dass unserem WingTsun das Los armer, degenerierter Selbstverteidigungskünste erspart bleibt, deren Konzepte zu toten Formeln erstarrt sind, seit sie ihre Philosophie auf dem Altar der olympischen Spiele geopfert haben.

 

Keith R. Kernspecht

P.S.: Nun mag ein Anfänger einwenden, dass er z.B. den Zugangriff der 1. Sektion doch genau so lernt, wie ich ihn oben kritisierte. Gut aufgepasst! Aber der erste Lernschritt kann nicht anders als mechanisch sein, besonders beim Gruppen-Unterricht, wo zwei Anfänger mit- oder (schlechter:) gegeneinander üben. Im Lernprozess ist es oft so, dass man am Anfang das Falsche (mechanisch Tote) tun muss, um am Ende das Richtige (Wahre, Lebendige) zu erreichen. Eben dies lässt viele an ihrem Lehrer oder ihrem System verzweifeln. Der Chi-Sao-Anfänger kommt nicht drum herum, mechanisch zu beginnen, denn zunächst geht es um die Ausführung von Techniken. Aber wenn durch Achtsamkeit das Verständnis wächst und sich mit der Technik verbindet und etwas Drittes und Neues entsteht, dann sollte unser Handeln spontan sein. Dann wird man uns zwar fast dieselben Bewegungen „machen" sehen, aber aus völlig anderen Gründen!

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.