Wie im Kampfkunstmärchen
Für uns war es ein großartiges Ereignis am zweiten internationalen Lehrgang teilzunehmen. Besonders deswegen, weil wir letztes Jahr nicht nach Lübeck kommen konnten und uns die begeisterten Berichte darüber auch in Bulgarien erreichten.
So viele WT-ler waren von überall her nach Lobbach gekommen. Wie selten zuvor spürten wir, Teil der großen WingTsun-Familie zu sein.
Besonders beeindruckt waren wir von der Manfred-Sauer-Stiftung, in der der Lehrgang stattfand. Ein imposantes neues Gebäude mit einem großen, lichtdurchfluteten Atrium, modernsten Seminarräumen, einem perfekten Restaurant – das Ganze wunderbar gelegen in schönster Natur. Der perfekte Ort sowohl für Entspannung als auch hartes Training. Das Wetter war sehr angenehm – leichter Wind, keine Wolken am Himmel, nur Sonne und tiefgrüne Natur. Dadurch war jeder noch energiegeladener.
Der Lehrgang war perfekt organisiert. Alles war so präzise geplant, als hätte die Veranstaltung schon immer hier stattgefunden.
Sehr beeindruckend war auch, dass fast alle Teilnehmer die neue Trainingskleidung trugen. Zum ersten Mal sahen wir so viele WT-ler in neuer Trainingskleidung zusammen trainieren und waren erstaunt, wie offen und freundlich der erste Eindruck war.
Die Seminare waren in drei Hauptgruppen untergliedert: Die erste Gruppe bestand aus WT-Schülerinnen und -Schülern bis zum 11. SG. In der zweiten Gruppe trainierten WT-ler vom 12. SG bis zum 2. TG und die dritte Gruppe war den 3. und 4. TGs und den Meistergraden vorbehalten. Der Lehrgang bot für uns alle eine großartige Gelegenheit, neue Menschen kennen zu lernen, alte Freunde wieder zu treffen und mit ihnen gemeinsam zu trainieren.
Die Meister König, Schembri und Schrön unterrichteten alle Teilnehmer in den Programmen, erklärten sowohl das jeweilige Konzept als auch viele Details. Sie nahmen sich für jeden Einzelnen Zeit, konzentrierten sich auf die Feinheiten und erklärten diese auf eine sehr freundliche Weise. Sie korrigierten bei den Anfängern die Formen, die vorhandenen Grundkenntnisse und die Lat-Sao-Programme. Die fortgeschrittenen Schülergrade und Techniker wurden bei den Chi-Sao-Partnerformen unterstützt und die Techniker bekamen außerdem Hilfestellung beim Reaktionstraining. Es war wirklich ein Ansporn und Motivation, die Meister beim Training dabeizuhaben, so dass allen ein Gefühl von Hilfsbereitschaft und Verbesserung der eigenen Fähigkeiten vermittelt wurde.
Meister Victor Gutierrez war für den kämpferischen und schweißtreibenden Teil des Trainings zuständig. Mit einem Lächeln im Gesicht und theoretischen Erklärungen demonstrierte er den Anwesenden, dass WT gegen jede Art von Angriff funktioniert, aber nur, wenn die hinter dem WT stehenden Konzepte befolgt werden. Seinen Schwerpunkt legte er dabei auf gleichzeitige Bewegungen, bei denen der gesamte Körper einbezogen und die Kraft des Schrittes ausgenutzt wird, so dass die Fauststöße und Fußtritte kraftvoller werden.
Sifu Kestner referierte über Körperreaktionen in extremen Stresssituationen. Sie nicht zu kennen, kann fatal werden, weil sie die natürlichen Bewegungsabläufe möglicherweise blockieren. Er zeigte unterschiedliche Trainingsmethoden, mit denen man lernt, wie man mit Angst umgehen kann. Sifu Kestner zeigte ausgeklügelte Trainingsmethoden, mit denen man sich selbst verbessern und mit diesem Wissen auch eigene Schüler in ihrer Entwicklung unterstützen kann.
Großmeister Bill Newman bereicherte den Lehrgang mit seinem großen Team von Escrimadores, die ihm halfen, die Schüler zu unterrichten. Er war in hervorragender Laune, in guter Verfassung und immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Er begann damit, die Leitgedanken des Waffenkampfes zu vermitteln: Sei weit genug von der Waffe des Angreifers entfernt, stehe stabil und reagiere zur rechten Zeit. Großmeister Bill war es besonders wichtig, den Schülern zu verdeutlichen, dass Escrima kein Stockkampf, sondern ein [Klingen-]Waffensystem ist.
Den Höhepunkt des Lehrgangs – zumindest für die WT-Anhänger – bildete der Unterricht von Großmeister Keith R. Kernspecht. Er vermittelte allen Schülern dieselbe Idee: Wie man zur rechten Zeit, mit der passenden Bewegung reagiert. Sein Hauptanliegen war es, seine Schüler wieder zurück zu den Wurzeln des WingTsun zu führen – die Kraft des Gegners zu fühlen und dadurch nicht zu früh, nicht zu spät, sondern genau angemessen auf den Angreifer zu reagieren. Zeitweise waren seine Bewegungen so schnell, entspannt und kraftvoll, dass es unglaublich war.
Der Irrtum vieler Kampfkünstler besteht nach Großmeister Kernspecht darin, dass sie glauben, alleine durch viele Techniken und Kombinationen und Partnerformen gute Kämpfer zu werden. Doch all die Chi-Sao-Partnerformen sind eine gute Trainingsmethode – aber nicht mehr. „Das ist wie mit den Wörtern und Sätzen in einem Wörterbuch. Selbst wenn du das komplette Wörterbuch auswendig aufsagen kannst, bist du noch nicht in der Lage, frei zu sprechen“, meinte dazu Großmeister Kernspecht.
Im Rahmen des Lehrgangs bekamen die Teilnehmer die Gelegenheit, die Trainerakademie auf Schloss Langenzell zu besichtigen. Höhepunkt dieses kleinen Ausflugs war die beeindruckende Escrima-Demonstration mit mittelalterlichen Waffen durch Master Bill und sein Team. In eindrucksvollen Kostümen und mit imposanten Rüstungen und Waffen faszinierten die „Ritter“ ihr Publikum – eine perfekte Show vor einer angemessenen Kulisse.
Nach dem zweiten Seminartag wurde für alle Teilnehmer und Gäste eine große Party veranstaltet. Im Atrium der Manfred-Sauer-Stiftung fanden über 300 Leute Platz, um gemeinsam zu feiern und einander über die Kampfkunst und das Training hinaus kennen zu lernen.
Das hervorragende Buffet wurde musikalisch von einem ausgezeichneten Sänger-Paar untermalt. Am späten Abend begeisterte dann das Frankfurter WT-Demo-Team unter der Leitung von Sifu Mark Tietz mit einer exzellenten Darbietung. Die meisten Zuschauer waren sich einig, dass sie die beste WingTsun-Demo seit vielen Jahren gesehen hatten.
Von so viel spektakulärer Bewegung hoch motiviert, hielt es viele nicht mehr auf ihren Stühlen. Der Tanzabend hatte begonnen und endete erst um drei Uhr in der Frühe.
Während dieser drei Tage war alles so interessant, dass die Zeit wie im Fluge verging. Uns kam es vor wie in einem Kampfkunstmärchen.
Und wir hoffen auf dessen baldige Fortsetzung!
Stanislav Bagalev und Peter Wladow
Bulgarien