Sifu Thomas Mannes

Protokoll 1 meines Privatunterrichts bei SiFu Kernspecht


Sonntag, 29.6.08, 20.45 Uhr

Ankunft in Kiel:
Schnell im Hotel einchecken und dann ab zum Public Viewing, um noch etwas vom Fußball-Europameisterschaftsendspiel zwischen Spanien und Deutschland zu erhaschen. Oh je, die Deutschen haben leider keine Chance! Man sieht an ihren Bewegungen, dass an diesem Abend die Nervenstärke fehlt und sie nur wenig Sprit (Psyche) ins Spiel einbringen. Da läuft der beste Motor nicht – ist klar, dass sie verlieren. Ohne Nervenstärke geht halt nichts. Beim Fußball sowie in Konfliktsituationen ist das meist der entscheidende Faktor. Gut, dass wir in unserem Training beim BlitzDefence dieses durch Rollenspiele auf ein Minimum einzudämmen versuchen. Ja, ja, SiFu unterrichtet schon. Seine Präsenz lässt sich schon spüren, und ich bin wieder einmal in Kiel angekommen.
 

Montag, 30.6.08, 12.30 Uhr

Beginn des Unterrichts mit SiFu:
Er gibt mir zuerst einen kleinen Überblick darüber, was wir in den nächsten beiden Tagen machen wollen.
Nicht zum ersten Mal in meinem Leben werde ich mit Dingen konfrontiert wie Antizipation, Körpersprache, Adaptation, Balance, perfekte Anpassung, Nachgeben, Schlagfertigkeit, Dilemmas, Timing, Kreativität des Augenblicks, usw. usw. Auch neu gewonnene Prinzipien, die man aus kurvigen Bewegungen ableiten muss, kommen zur Sprache sowie das Problem, das durch Messerattacken entsteht – ein Parameter, der altgewohnte Bewegungsmuster total verändern lässt.
Dann beginnen wir, das Ganze mit neuem Reflextraining auch in die Tat umzusetzen. Leider erweist sich SiFu für mich als megaschlagfertig – hier im wahrsten Sinne des Wortes – und setzt alles Vorhergesagte perfekt in Bewegung um. Leider auch deswegen, weil ich seinen Reflexen und seiner Beweglichkeit nichts entgegenzusetzen habe und ich noch nicht so richtig mitspielen kann. Es liegt aber auch daran, dass seine sehr gezielten Gegenangriffe aus Winkeln kommen, die ich als „geradeliniger WT-ler“ bis jetzt nur sehr schwer berechnen kann.
Ich komme mir vor, wie ein „Fühlembryo“ und hoffe, mit viel Fleiß (denn eine göttliche Eingebung gibt es hier nicht!) mich auch zu so einem „Fühlmonster“ zu entwickeln, wie es SiFu jetzt schon ist. Aber – und das ist das Gute daran! – es ist erlernbar!
Viel zu schnell vergeht die Zeit und der erste Nachmittag ist dann auch leider schon vorbei.
 

Montag, 30.6.08, 20.00 Uhr

Abendessen mit SiFu und Simo und Nathalie:
Wir unterhalten uns natürlich hauptsächlich über das neue Reflextraining sowie den Sinn und Unsinn der WT-Partnerformen (ChiSao-Sektionen). Da ein Kampf eher chaotisch ist, als geordnet und von der Kreativität des Moments lebt, bereiten die ChiSao-Sektionen kaum oder fast gar nicht darauf vor. Nicht für den Beginner, aber für den Fortgeschrittenen sind sie eher kontraproduktiv. Sie sind vorgefertigte Antworten auf die immer gleichen Fragen. Sie können nicht auf stetig neue Fragen des Gegners passen und decken nur bedingt das Spektrum von Bewegungen ab, die in einem Kampf vorkommen können. Sie sind wie Essen aus der Dose und kein kreativ und frisch zusammengestelltes Menue – womit wir dann auch wieder beim Grund unseres Zusammenkommens an diesem Abend sind. Es gibt, Gott sei Dank, nichts aus der Dose!
Auch von der Kreativität des Moments hängt das „Spiel“ zwischen Männlein und Weiblein ab, was Nathalie besonders interessiert. Auch hier gibt es ein paar Prinzipien (Spielregeln), die man beachten sollte. Aber wie in einer Konfliktsituation, so auch beim Anmachen einer Frau, zählt meistens die Kreativität des Moments, um als Mann besonders viel Erfolg zu haben. Hier gewinnen nicht immer die Schönsten, sondern die Kreativsten, wie man ja auch bei einer einschlägigen Werbung für die längste Praline der Welt im Fernsehen sehen kann.
Auch der Nachtisch ist klasse und ich danke für einen schönen, gut gelungenen Tag.


Dienstag, 1.7.08, 9.30 Uhr

Vor dem nächsten Unterricht gehe ich noch ein bisschen im Kieler Hafen spazieren und schaue mir die noch übriggebliebenen Windjammer an, die an der Kieler Woche teilgenommen hatten. Beim Blick ins Wasser fallen mir die vielen Quallen auf. Es fasziniert mich, wie sie sich fortbewegen, und ich denke mir: Wenn man sich nur so ähnlich weich und elegant im ChiSao bewegen könnte, dann wäre einem schon sehr viel geholfen!


Dienstag, 1.7.08, 12.50 Uhr

SiFu kommt ein bisschen später, da er bis 5.00 Uhr morgens gearbeitet hat. Mir ist es recht – so kann ich noch schnell einen Espresso genießen und mich mental auf die heutigen Privatstunden vorbereiten. Dann gegen 13.00 Uhr geht es auch schon wieder mit Reflextraining los, und ich bin schnell wieder voll in die Welt der runden Bewegungen und simulierten Messerattacken verstrickt. Heute bearbeiten wir aber hauptsächlich die Probleme des Lösens von den Armen des Gegners und die des dazugehörigen Timings, was für mich ein größeres Problem ist, als das „Surfen“ auf den Armen. Wir philosophieren über Timing, das im ganzen Leben eine große Bedeutung hat und mehr als allzuoft über Sieg oder Niederlage, Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück entscheidet. Mir fallen spontan zwei Situationen ein, in denen das Timing von ganz besonderer Bedeutung ist – an der Börse und beim Aufsetzen während der Landung eines Flugzeugs. In diesen beiden Fällen sowie beim Kämpfen wird richtiges Timing von Erfahrung, von guten Informationen und von intuitiver Spontanietät gespeist.
Im Falle der Börse kostet ein „zu früh“ oder „zu spät“ Geld, beim Landen eines Flugzeugs lässt ein zu frühes Ziehen am Steuerhorn den Flieger wieder steigen und bei einem zu späten Ziehen hat man das Abfangen der Maschine verpasst – mit vielleicht fatalen Folgen.
So ähnlich ist es auch bei unserem neuen Reflextraining: Wenn die „Surfphase“ ausgereizt ist und man die Kraft und die Bewegung des Gegners ausgenutzt hat, kommt der Moment des Lösens und da muss das Timing optimal stimmen. Bei einem zu frühen Lösen setzt man sich der Gefahr aus, dass der Gegner auch zuschlagen könnte. Wenn man aber zu lange wartet, dann hat der Gegner den Braten gerochen und die Gelegenheit ist verpasst.
Ganz spontan fällt mir ein arabisches Sprichwort dazu ein:

„Es gibt drei Dinge, die unwiederbringlich sind: der abgeschossene Pfeil, das schnell hingesagte Wort und die verpasste Gelegenheit!“


Dienstag, 1.7.08, 15.00 Uhr

Kleine Halbzeitpause:
Im Cafe nebenan bei Kaffee und Schokolade (80 %) unterhalten wir uns über Prinzipien und philosophieren über das vielleicht über allem stehende Prinzip, dem alles unterliegt, und an dem man sogar eine gewisse Weltordnung erkennen kann. Leider sind meine Denkmuskeln noch nicht so weit entwickelt und ich gönne daher meinem Gehirn eine kleine Überkompensationsphase. Vielleicht kann ich danach den roten Faden besser erkennen und diesen gerade legen.


Dienstag, 1.7.08, 15.30 Uhr

Weiter geht es mit Reflextraining und SiFu konfrontiert mich mit kampftechnischen Dilemmas. Dilemma (griech. eigentlich = Doppelgriff) ist eine Zwangslage, eine Situation, in der sich jemand befindet, wenn er zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder unangehmen Dingen wählen soll oder muss. SiFu schafft es, mehr als oft so Doppelangriffe zu steuern, die ich mit herkömmlichen WT-Bewegungen nicht händeln kann. Aus diesem Dilemma kommt man nur, wenn man neue Bewegungen einfließen lässt, die ich bisher nicht kannte und die oft gegensätzlich zu meinen „alten“ eingeschliffenen WT-Bewegungsmustern stehen.
Mir schießt hier ein völlig neues taoistisches Weltbild durch den Kopf. Und da ich den Taoismus natürlich immer mit dem Ying/Yang-Symbol verbinde, stelle ich mir nun ein neues Symbol vor: Es ist nicht zweidimensional in der Ebene dargestellt, sondern dreidimensional. Es ist nicht zweifarbig, sondern bunt. Es hat keine Abgrenzung, sondern die Übergänge sind fließend. Und es ist nicht zu fassen, da es sich ständig bewegt.
Und hier möchte ich den von Bruce Lee oft benutzten und richtigen Satz

„Be Like Water!“

mit dem Satz

„Be Like The Wind!“

erweitern.


Dienstag, 1.07.08, 17.30 Uhr

Ende des Unterrichts. Leider auch viel zu schnell geht dieser Tag vorbei.
Als Resümee bleibt es mir nur zu sagen, dass sich das neue Reflextraining so verhält, wie mein neues Ying/Yang-Symbol – eigentlich verstanden, aber doch noch nicht zu fassen.


Dienstag, 1.7.08, 19.30 Uhr

Rückfahrt nach Saarbrücken:
Viele Gedanken und Fragen gehen mir durch den Kopf. Hauptsächlich beschäftige ich mich aber damit, wie ich mein persönliches Programm und das für meine Schüler/innen umstellen muss, um bessere und ehrlichere Resultate zu erzielen, als es bisher der Fall war.
Ich muss gestehen, und ich bin jetzt natürlich im Nachhinein auch ein bisschen froh, dass ich den Run auf die ChiSao-Sektionen und die immer neuen Versionen davon, nicht mitgemacht habe in den letzten Jahren. Ich arbeite immer noch mit „meinen“ gelernten Versionen, die ich aber für den Höchstfortgeschrittenen so kräftig untereinander mische, dass ständig neue Derivate entstehen und dadurch auch eine gewisse Freiheit des Fühlens erhalten bleibt. Die einzelnen Sektionen waren nur eine schemenhafte Vorgabe für bestimmte Reflexe, die trainiert worden sind, von der wir aber sofort abkamen, sobald sich Druck und Richtung änderten. Jedenfalls kommt mir das neue Reflextraining sehr entgegen und bringt wieder Ehrlichkeit in die Fähigkeiten der WT-ler.

 

Nachgedanken und erste Trainingserfahrungen

Es ist natürlich nicht einfach, das neue Reflextraining faktisch richtig in die gewohnte und auch bewährte alte Trainingsabfolge Form, ChiSao, LatSao einzubauen, da der „normale“ Schüler sich an etwas festhalten will. Die neu gewonnene kreative Freiheit bereitet gerade den „alten Hasen“ mehr Schwierigkeiten, weil sie noch in dem Gefängnis der festgelegten Abläufe stecken. Fühlen ist aber ein bewusster Moment der Gegenwart, des Augenblicks – man kann hier nichts vorplanen oder nachbearbeiten, man muss in diesem Moment das Richtige tun, was sich nur durch „learning by doing“ trainieren lässt. Beim Fliegen und beim Landen eines Flugzeugs ist es genauso. Deswegen werden auch in der Fliegerei die Flugstunden und die Landungen gezählt, um eine Aussage über die Fähigkeiten eines Piloten zu haben. Da zählt nicht, wie lange jemand Mitglied in der Fliegerei ist.
Im großen Ganzen haben wir unser WT-Training in Saarbrücken jetzt in zwei Hauptblöcke eingeteilt. Der eine beinhaltet ein ausgebautes Schlagtraining, bei dem wir unterschiedlichstes Equipment benutzen und auch Fitness und Krafttrainingsteile mit einbauen. Der andere ist unser neues Reflextraining, das aus Konfliktsituationen und sehr kleingeschnittenen alten ChiSao-Sektionen gespeist wird, um einen ersten Impuls zu erzeugen, und um überhaupt eine Bewegungsvorgabe zu haben.
Ich habe folgendes symbolisches Bild in meinem Kopf, das unseren Standard-Trainingsablauf am besten beschreibt: Es ist ein altertümlicher Krieger mit Schild und Schwert. Das Schild symbolisiert den Schutz, den wir durch Reflextraining und allem, was dazu gehört, aufbauen, und das Schwert ist unser Schlag-, Fitness- und Krafttraining und wird dadurch geschärft und bewegt.
Wenn ich es einmal überspitzt interpretieren darf, passt auch unsere neue Uniform zu diesem Bild, denn auf der linken Brustseite sieht man ein Wappen in Form eines Schildes und da steht EWTO drauf.
Ich freue mich auf die Zukunft.


 

Protokoll 2: Privatunterricht bei SiFu Kernspecht vom 8. bis 11. August 2008 in Pisa

Freitag, 8. August, 18.00 Uhr

Ankunft in Pisa:
Murphys Gesetz schlägt wieder einmal gnadenlos zu. Habe meine Kreditkarte zuhause auf dem Schreibtisch liegen lassen, sodass ich nicht meinen online gebuchten Leihwagen übernehmen kann. Ich muss bei einer kleineren Verleihfirma einen teureren, aber kleineren Wagen ohne Navi buchen und zu allem Übel auch noch 500,– € Kaution bar hinterlegen. Mein Plan für eine geruhsame Ankunft und entspanntes Herumfahren ist plötzlich über den Haufen geschmissen. Ich kämpfe mich mit diesem kleinen Fiat, im Dunkeln, durch den überladenen italienischen Schilderwald und muss höllisch aufpassen, dass mir keiner von den jungen Leuten auf ihren Motorrollern, die wie Wespen um mich schwirren, auf die Motorhaube hüpft. Ich verstehe jetzt, warum die Motorroller nur Vespa heißen können und bestimmt eine italienische Erfindung sind. Gott sei Dank, taucht plötzlich die Lichtreklame des Hotels auf und ich kann dieses geordnete Chaos hinter mir lassen. Ich checke schnell ein und genieße in aller Ruhe noch ein Glas Chianti auf der Dachterrasse mit herrlichem Blick übers Meer und hänge meinen Gedanken nach, wieso man im Kampf sowie auch in vielen Lebenssituationen nichts vorausplanen sollte. Es kommt immer anders, als man denkt. Buona Sera, Italia!


Samstag, 9. August, 12.00 Uhr

Beginn des Privatunterrichts bei SiFu:
Wir starten mit dem Versuch, die einzelnen Bewegungen unseres neuen Reflextrainings zu systematisieren und einen kleinen Katalog an Programmen aufzuzeichnen. Wegen der menschlichen Anatomie und bedingt durch bestimmte Armpositionen in Konfliktsituationen gibt es natürlich entsprechende Bewegungsvorgaben, die man als Initialbewegung einmal durcharbeiten muss. Und hier interessiert uns mehr, was die vermeintlichen 6 Mrd. „Aggressoren“ tun würden, die auf diesem Erdenball leben und die sind mit ihren unwirschen, runden Bewegungen schwieriger zu händeln, als die paar Tausend WT-ler, deren domestizierte Bewegungen doch sehr stilisiert und exotisch daherkommen.
Komischerweise sind die „alten“ WT-Bewegungen dem neuen Reflextraining Wasser auf die Mühle, da sie durch den Druckeinsatz – und wenn er auch noch so klein ist – leichter auszurechnen sind. Geraden lassen sich eben leichter berechnen, als Kurven – das ist in der Mathematik genauso.
Wir „spielen“ ein paar Situationen durch, lassen uns aber immer die Freiheit, sie auch ständig zu verändern. Ist die erste Initialbewegung gemacht, ist alles wieder Gefühlssache und abhängig von der Kreativität des Moments.
Ich möchte es wieder einmal mathematisch ausdrücken: Wenn man die Fähigkeit des Addierens trainieren möchte, dann benutzt man klugerweise ständig neue Zahlen und rechnet nicht immer exakt die gleiche Aufgabe.
SiFu und ich arbeiten uns in einen richtigen „Flow“ hinein und der Nachmittagswind, der vom Meer über die Dachterrasse streicht, bringt, Gott sei Dank, ein bisschen Abkühlung.
Es ist ein schöner Nachmittag, und ich bin ganz zufrieden mit mir, da ich den Ball auch ab und zu auf der Platte halten und SiFu zurückspielen kann, um es einmal tischtennismäßig auszudrücken. Aber SiFu macht gnadenlos jeden Punkt.


Samstag, 9. August, 19.30 Uhr

Abendessen mit SiFu und Sifu Bagalev:
Bei Sushi und Rave-Sound, der sich übrigens bestens als Hintergrundmusik für unser neues Reflextraining eignet, versuchen wir dieses in drei Schlagwörtern so zu beschreiben, dass jede Phase optimal und prägnant zum Ausdruck gebracht wird.
Phase 1 behandelt die Antizipation (lat. anticipatio: Vorgriff, Vorwegnahme – im Kampf: Vorausahnen der Bewegung des Gegners und entsprechendes Handeln), Phase 2 die Adaption (lat. adaptatio/adaptare: Anpassung an die jeweilige Bedingung – im Kampf: Anpassung an die Bewegungen des Gegners und eins werden mit ihm). Bei Phase 3 aber, dem mit gutem Timing wieder Lösen vom Gegner und dem geschickten Zuschlagen, bekommen wir kein vernünftiges „-tion“-Wort zusammen. Vielleicht gelingt uns das an anderer Stelle besser, wenn unser Biorhythmus wieder im geistigen Hoch steht. Außerdem stört gerade draußen auf dem Parkplatz ein italienischer Knöllchenverteiler unser Brainstorming und wir machen uns auf den Heimweg.


Sonntag, 10. August, 12.00 Uhr

Fortsetzung des Privatunterrichts bei SiFu:
Auf dem Weg zu SiFu nehme ich noch Sifu Bagalev mit und wir navigieren uns wieder durch den italienischen Schilderwald und schaffen es doch tatsächlich zur rechten Zeit bei SiFu anzukommen. Uns, „Jedi-Ritter des WT“, leitet da mehr eine Präsenz der Macht als der ausgegoogelte Weg aus dem Internet, da wir zwei Umleitungen fahren müssen. Und wie schon vorher erwähnt, hat auch hier die Planung nur wenig genutzt.
Wir beginnen wieder mit „Surftraining“ für unsere Arme und nutzen dazu das gute alte PoonSao als Einstieg in die Bewegungen. SiFu erklärt, dass es eigentlich zwei Arten von ChiSao gibt. Die eine arbeitet mit Druck, der auch der direkte Input für die Verformung der Arme darstellt, und die zweite ist eher ein Surfen auf den Bewegungen, um daraus Schlüsse und Informationen zu ziehen, die dann das weitere Handeln bestimmen. Eine ganz wichtige Form des Handelns ist es, dabei das vermeintliche Zielgebiet zu evakuieren, also den Körperteil, der durch die Bewegungen des Gegners bedroht ist, aus der Gefahrenzone zu bringen. Ein Betrachter würde hier beim Zuschauen zum ersten Mal erkennen, was wir mit dem Begriff „weich“ oder besser „flexibel“ meinen. Ich spiele schon mit den Gedanken, meine alten Breakdance-Fähigkeiten wieder aufzufrischen und einen Bauch-Becken-Boden-Gymnastikkursus zu besuchen. Aber als WT-ler suche ich natürlich die Schnittmenge in den WT-Formen und glaube nun zu wissen, dass dafür am besten die 3. Form (BiuDjie) geeignet ist.
 

Sonntag, 10. August, 16.00 Uhr

Kleine Pause in einem kleinen Cafe in der Nähe:
Wir unterhalten uns über natürliche Reflexe, die seit Urzeiten in uns gespeichert sind und die Kampfkunstsysteme zurecht dadurch in natürliche und unnatürliche Systeme einteilen. Um schnellere Reaktionen hervorzubringen, ist es klugerweise besser, mit natürlichen Reflexen zu arbeiten, die schon von unseren entfernten Vorfahren benutzt worden sind, um sich vor gefährlichen Tierangriffen, wie z.B. Schlangenbissen, zu schützen, damit die Erhaltung der Art und der Fortbestand der Rasse gewährleistet waren. Es wäre also klüger, diese Reflexe wieder herauszukitzeln und zu pflegen.
Leider plärrt ein Fernseher in wildem Italienisch von der Decke herunter und feiert einen neuen italienischen Olympiasieger im Fechten, was unsere Unterhaltung stört und uns die Örtlichkeit wechseln lässt.


Sonntag, 10. August, 17.00 Uhr

Letzte Pisa-Einheit des Privatunterrichts mit SiFu:
Wir bleiben bei dem Thema Schlangen, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es mir so vorkommt, dass SiFus Arme so erscheinen, als hätte ich es mit zwei giftigen Kobras zu tun, die es zu kontrollieren gilt und die völlig unabhängig voneinander arbeiten. Unter anderem lässt diese Unabhängigkeit beider Arme es aber auch zum ersten Mal zu – entsprechendes Training und Können natürlich vorausgesetzt – in Echtzeit, also wirklich gleichzeitig, mehrere Gegner zu bekämpfen. Nebenbei wird auch die Fähigkeit trainiert, Attacken eins zu eins zu händeln, wozu früher der Einsatz beider Arme – durch eine Gleichzeitigkeit, wie z.B. TanSao'/Fauststoß – vonnöten war.
Ich überlebe, Gott sei Dank, die meisten „Schlangenbisse“ von SiFu, auch deswegen, weil man uns mit entsprechendem „Serum“ – frisch ausgepresstem Orangensaft – versorgt. Vielen Dank!
Leider ging auch dieser Nachmittag viel zu schnell vorbei und ich bedanke mich für das Gelernte und das Gehörte.


Sonntag, 10. August, 20.00 Uhr

Abendessen und Gespräch mit Sifu Bagalev:
Nachdem wir den „schiefen Turm“ besichtigt haben, sitzen Sifu Bagalev und ich noch zu einem abschließenden Abendessen zusammen und diskutieren über das neue Reflextraining.
Die letzten zwei Tage zurückblickend, sind wir einer Meinung, dass das neue Reflextraining viele Gemeinsamkeiten mit dem quirligen, geordnet/chaotischen, italienischen Straßenverkehr hat.
Man kann nichts richtig vorplanen, er ist immer für eine Überraschung gut, man muss sich dem Verkehrsstrom anpassen, man muss ständig auf der Hut sein, man hat es fast immer mit mehreren Gegnern zu tun und man braucht das richtige Timing, um sich von ihm zu lösen. Aber er funktioniert und macht Spaß. Ich habe ihn, oder besser gesagt, mein Leih-Fiat hat ihn ohne Kratzer überlebt, und ich bin stolz und zufrieden. Arrivederci Italia!


Montag, 11. August, 16.30 Uhr

Rückflug nach Deutschland:
Von meinem Fensterplatz aus und beim Überfliegen des herrlichen Panoramas der mächtigen Alpen hänge ich in Gedanken, wie das neue Reflextraining das WingTsun verändern wird.
Einerseits kehrt wieder eine Ehrlichkeit in das System zurück, die alle Spekulanten, die auf der Suche nach dem heiligen Gral waren oder auch noch sind, auf den Boden der Tatsachen zurückbringt. Andererseits entwickelt sich aber auch eine Entzauberung des mystifizierten asiatischen Traumes, dem wir – und auch ich – doch alle nachhängen, und der uns instinktiv erst überhaupt zu asiatischen Kampfkünsten gebracht hat. Sind diese Kampfkünste automatisch deswegen besser, weil sie von weit her kommen? Oder wollen wir nur uns und unsere Umgebung mit ein bisschen Exotik aufpeppen?
Vielleicht sollten wir es so halten, wie es Goethe schon vor ungefähr 200 Jahren im west-östlichen Divan niedergeschrieben hat:

„Wer sich und andere kennt, wird auch hier erkennen:
Weder im Osten noch im Westen sei’s zum Besten.
Sinnig zwischen beiden Welten, sich zu bewegen, lass ich gelten.“